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Amarilis (German Edition)

Amarilis (German Edition)

Titel: Amarilis (German Edition)
Autoren: Rainer Kempas
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I
     
         
     
    Nichts war auf Amarilis, das auf eine Sonne deutete. Es gab kein
Licht, das sich von den kahlen Wänden warf. Nur das Dunkel einer Nacht hockte
in dem Raum wie undurchdringlich schwarze Watte. Aber von dem, was nicht zu
sehen war, hafteten überall lautsinnige Spuren.
       Das Kämmerchen ähnelte mehr einer Gruft, der auf immer das
Leben entzogen schien, da es der glatte Fels von allen Seiten schloss. Wenn
nicht in seiner hintersten Ecke eine Öffnung wäre, die über einen Meter maß und
wohl kaum dem Zufall überlassen sein konnte.
       Deren oberes Ende bildete einen konvexen Bogen, der in den
tiefen Fels eingelassen war und zu einer weiträumigen Halle führte, die auf
diese Art noch mehrere Kämmerlein miteinander verband.
       In der Mitte dieser Kuppel befand sich ein rechtwinkliges
Dreieck, einer Pyramide nicht unähnlich, wenn sie ihm einen Sinn verliehen
hätte. Aus der abgeplatteten Spitze quollen zahllos wurzelartige Knollen, die
von der Decke herunterhingen und zu feinen Härchen zerfaserten. Ihre Enden hatten
sich in den Stein gegraben und das Dreieck mitsamt dem Trieb fest verankert.
       Sichtbar hingegen war kein Dreieck. Es wies weder Umrisse auf
noch den Schatten seiner Gestalt. Kaum, dass die drei Finger der Hand es zu ertasten
vermochten. Es war nicht für ein Auge bestimmt. Aber es bestand in seiner Form,
die alles wiedergab, was sie erreichte. Jeden Ton nahm es auf, und jede
Kundschaft fand eine Antwort. Wer es hören konnte, liebte es.
       Der Botengang des Schalles war vollkommen. Bisweilen sogar
lautlos zog er durch die verließartigen Hallen der Felsenschluchten.
       Aber es gab nicht nur Dreiecke auf Amarilis.
       In einer Nische des kuppelartigen Saales saß ein etwa einen
Meter großes Geschöpf. Es lebte, obwohl es sich mit keiner Bewegung verriet,
und seine glatte Haut zu fahl war, um sich vor der Schwärze des Felsens abzuzeichnen.
Auf seinem knorpeligen Kopf hatte es eine nach oben gebogene Röhre mit hübschen
Windungen, die nun leicht erzitterte.
       ‚Ach Riorresia, komm wohl doch. Da bist du.’
       Das zierlich gewundene Geweih, das sich in einen kleinen,
nach außen hin wellenden Trichter öffnete, erzitterte ein wenig stärker, als es
sich dem Rufenden zuwandte.
       ‚Ich weiß, du bist. Ich messe ja dein Horn!’
       Doch Riorresia blieb stumm. Eher noch duckte sie sich enger
an die Wand. Dabei schob sie das vordere Kinn, dessen Knochen in der Mitte den
hinteren Unterkiefer überdeckte, noch etwas vor, senkte aber gleichzeitig den
schmalen Kopf ein wenig tiefer, als sie in der gegenüberliegenden Kammeröffnung
den Gefährten ausmachte.
       Aurelazo hatte ein ebensolches Gewächs auf seiner Stirn, nur dass
es sich dicht über dem Kopf stärker wand und in einen größeren Trichter überging.
Er stand hoch aufgereckt auf den Hornplatten seiner Zehen, denn sein Fuß besaß
keine Sohle. Sein Oberkörper war vollkommen erhoben und die Brust gespreizt, so
dass sich die Dornfortsätze der Wirbel unter der ledrigen Haut spannten.
       ‚Wohl an der Felswand, Riorresia. Wenn warte ja, ich komm.’
       Mit seinem ein wenig wiegenden Gang schritt er zu ihr hin,
und seine Röhrengabel berührte die ihre.
       ‚Ich riech dich, schau, wahrlich wohl’, flüsterte er, und sie
legte ihre dreifingrige Hand an seinen Kopf, während sie mit dem Sporn ihres Daumens
leicht über die Knorpel seines Nackens strich. Doch plötzlich stach sie ihn mit
dem spitzen Ende des Nagels, der hart wie Eisen war, hinter das Ohr, sprang auf
und rannte zur anderen Seite des Saales. Aber er wusste, sie war noch kalt,
denn er hatte ihre Rückenflosse gefühlt, und so beeilte er sich nicht
sonderlich. Schon hatte er sie eingeholt.
       Er nahm sich vor, sie davon abzubringen, so oft in die kühleren
Gebiete der Katakomben zu gehen. Allzu weit weg vom großen Feuer für längere
Zeit konnten selbst die warmhaltenden Rückenflossen nicht gewähren.
       ‚Dein Ei wartet wohl, Riorresia. Vielleicht ist nun kalt, wo
es ist.’
       ‚Dann geh du, Aurelazo. Unter dir ist auch warm. Wie
genauso.’ Sie hatte zum ersten Mal gesprochen. Sogleich zog sie wieder das eine
Kinn vor. Dabei fühlte sie keinen Groll. Sie wollte nur allein sein, denn ihr
wuchsen zwei Zähne nach. Und das juckte beträchtlich.
       So schritt Aurelazo allein zurück. Mitten im Gang hing von
der Decke aus einem Dreieck herab die Wurzel eines Triebes, dessen Fasern ihm
bis zum Kopf reichten.
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