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Jack McEvoy 01 - Der Poet

Jack McEvoy 01 - Der Poet

Titel: Jack McEvoy 01 - Der Poet
Autoren: Michael Connelly
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    Tod ist mein Ressort. Ich lebe von ihm. Ich schmiede meinen beruflichen Ruhm mit seiner Hilfe. Ich behandle ihn mit der Leidenschaft und Präzision eines Bestattungsunternehmers - ernst und voller Mitgefühl, wenn ich mit den Hinterbliebenen spreche, wie ein erfahrener Handwerker, wenn ich allein bin. Ich war immer der Ansicht, das Geheimnis des Umgangs mit dem Tod bestünde darin, genügend Abstand zu ihm zu halten. Die Regel lautet: Man darf nicht zulassen, dass er einem ins Gesicht atmet.
    Aber ich hatte keine Chance, mich an diese Regel zu halten. Als die beiden Detectives erschienen und mir von Sean erzählten, ergriff eine kalte Taubheit von mir Besitz. Es war, als befände ich mich in einem Aquarium. Ich bewegte mich wie unter Wasser - vor und zurück, vor und zurück - und betrachtete den Rest der Welt durch das Glas.
    Vom Fond ihres Wagens aus konnte ich im Rückspiegel meine Augen sehen. Sie blitzten jedes Mal auf, wenn wir eine Ampel passierten. Ich erkannte den Blitz wieder. Aus den Augen der frisch verwitweten Frauen, die ich im Laufe der Jahre interviewt hatte.
    Ich kannte nur einen der beiden Detectives, Harold Wexler. Ich hatte ihn ein paar Monate zuvor kennen gelernt, als ich mit Sean auf einen Drink ins Pints Of gegangen war. Sie gehörten beide derselben Abteilung der Polizei von Denver an, der CAP, die für Verbrechen an Menschen zuständig war. Ich erinnerte mich, dass Sean ihn Wex genannt hatte. Cops reden sich immer mit Spitznamen an. Der von Wexler ist Wex, und der von Sean war Mac. Das ist so eine Art Stammesbindung. Einige der Namen sind nicht gerade schmeichelhaft, aber die Cops beschweren sich nicht. Ich kenne einen in Colorado Springs, der Scoto heißt und den die meisten Scroto nennen. Ein paar gehen sogar so weit, ihn Scrotum zu nennen, aber ich nehme an, man muss schon ein sehr guter Freund sein, um sich das erlauben zu dürfen.
    Wexler war gebaut wie ein kleiner Bulle, kräftig, untersetzt, mit einer von Zigaretten und Whiskey verräucherten Stimme. Ein scharfgeschnittenes, auffallend rotes Gesicht. Ich erinnere mich, dass er Jim Beam auf Eis trank. Mich interessiert immer, was Cops trinken. Es verrät eine Menge über sie. Wenn sie ihre Drinks unverdünnt zu sich nehmen, muss ich immer denken, dass sie vielleicht zu oft zu viele Dinge gesehen haben, die die meisten Menschen überhaupt nicht zu sehen bekommen. Sean trank an jenem Abend Lite Bier, aber er war auch noch jung. Obwohl er die Abteilung leitete, war er mindestens zehn Jahre jünger als Wexler. Zehn Jahre später hätte er seine Medizin vielleicht auch kalt und unverdünnt eingenommen, wie Wexler. Doch das werde ich jetzt nie erleben.
    Ich verbrachte den größten Teil der Fahrt damit, an jenen Abend im Pints Of zu denken. Nicht, dass dort irgendetwas Wichtiges passiert wäre. Nur ein paar Drinks mit meinem Bruder. Und das letzte Mal, dass wir uns richtig gut verstanden. Bevor Theresa Lofton auftauchte. Diese Erinnerung versetzte mich wieder zurück in das Aquarium.
    Doch sobald die Realität es schaffte, das Glas zu durchdringen und in mein Herz vorzustoßen, überwältigte mich ein Gefühl des Versagens und des Kummers. Es war die erste wirkliche Seelenqual, die ich in meinen vierunddreißig Jahren durchmachen musste. Das schloss den Tod meiner Schwester mit ein. Damals war ich noch zu jung gewesen, um richtig um Sarah trauern oder auch nur den Schmerz eines nicht erfüllten Lebens begreifen zu können. Jetzt trauerte ich, weil ich nicht einmal gewusst hatte, dass Sean so dicht am Abgrund gestanden hatte. Er war Lite Bier gewesen, während all die anderen Cops, die ich kannte, Whiskey on the rocks waren.
    Natürlich war mir bewusst, wie viel Selbstmitleid in dieser Art von Trauer steckte. Wir hatten einander lange Zeit nicht richtig zugehört. Wir hatten unterschiedliche Wege eingeschlagen. Und jedes Mal, wenn ich mir diese Tatsache eingestand, begann der Kreislauf des Kummers von vorn.
    Mein Bruder hatte mir einmal die Theorie des Limits erklärt. Er sagte, jeder Cop, der in der Mordkommission arbeite, habe ein Limit, aber dieses Limit sei ihm unbekannt, bis er es erreicht habe. Er redete über Tote. Sean war überzeugt, dass jeder Cop nur soundso viele Tote ertragen konnte. Die Zahl lautete bei jedem anders. Manche klappten schon früh zusammen. Andere gehörten der Mordkommission zwanzig Jahre lang an und kamen nicht einmal in die Nähe des Limits. Aber eine Zahl gab es immer. Und wenn sie erreicht war, dann war
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