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Jack McEvoy 01 - Der Poet

Jack McEvoy 01 - Der Poet

Titel: Jack McEvoy 01 - Der Poet
Autoren: Michael Connelly
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und erreichte am nächsten Tag Telluride. Ich hatte den Cherokee die ganze Zeit auf Allrad-Antrieb geschaltet. Ich blieb in Silverton, weil die Zimmer dort billiger waren, und lief eine Woche lang jeden Tag Ski. Die Abende verbrachte ich Jägermeister trinkend in meinem Zimmer oder am Kamin der jeweiligen Skihütte. Ich versuchte, meinen Körper zu erschöpfen, in der Hoffnung, dass meine Seele ihm zur Ruhe folgen würde. Aber es gelang nicht. All meine Gedanken kreisten um Sean. Jenseits von Raum. Jenseits von Zeit. Seine letzte Botschaft war ein Rätsel, das mein Verstand nicht lösen konnte.
    Aus irgendeinem Grund hatte meines Bruders edle Berufung ihn verraten. Sie hatte ihn umgebracht. Der Schmerz, den diese simple Schlussfolgerung mir bereitete, wollte einfach nicht nachlassen, nicht einmal dann, wenn ich die Hänge hinunterglitt und der Wind mir hinter meiner Sonnenbrille Tränen in die Augen trieb.
    Ich zweifelte das offizielle Untersuchungsergebnis nicht mehr an, aber es waren nicht Wexler und St. Louis, die mich überzeugt hatten, vielmehr die Zeit und die Tatsachen. Mit jedem Tag, der verging, war seine grauenhafte Tat etwas leichter zu verstehen und sogar zu akzeptieren. Und dann war da noch Riley. Am Tag nach jenem ersten Abend hatte sie mir etwas gesagt, was damals nicht einmal Wexler und St. Louis wussten. Sean war einmal in der Woche zu einem Psychiater gegangen. Natürlich standen ihm die Dienste von Polizeipsychologen zur Verfügung, aber er hatte sich für die private Lösung entschieden, weil er nicht wollte, dass seine Position durch negative Gerüchte in Gefahr geriet.
    Mir wurde bewusst, dass er den Therapeuten ungefähr zu der Zeit aufgesucht haben musste, als ich ihm sagte, dass ich über Theresa Lofton schreiben wollte. Ich nahm jetzt an, dass er vielleicht versuchen wollte, mir die Seelenqualen zu ersparen, die der Fall ihm bereitete. Mir gefiel dieser Gedanke, und ich versuchte, mich in jenen Tagen in den Bergen an ihm festzuhalten.
    Eines Abends nach viel zu vielen Drinks stand ich vor dem Spiegel des Hotelzimmers und zog in Erwägung, mir den Bart abzurasieren und mein Haar so kurz zu schneiden, wie Sean seines getragen hatte. Wir waren eineiige Zwillinge - dieselben nussbraunen Augen, hellbraunes Haar, schlanker Körperbau -, aber es war nicht vielen Leuten aufgefallen. Wir hatten uns immer sehr viel Mühe damit gegeben, anders als der andere zu sein. Sean trug Kontaktlinsen und stemmte Gewichte, um Muskeln zu bekommen. Ich trug eine Brille und hatte seit meiner Collegezeit einen Bart; Gewichte habe ich seit dem Basketball in der High School nicht mehr in die Hand genommen. Außerdem hatte ich jene Narbe vom Ring dieser Frau in Breckenridge. Meine Schlammschlachtnarbe.
    Sean ging nach der High School zuerst zum Militär und dann zur Polizei. Später hatte er eine Teilzeitstelle und studierte nebenbei an der University of Colorado. Er brauchte das Studium, um in seinem Job noch weiter voranzukommen. Ich hingegen bummelte ein paar Jahre herum, lebte in New York und Paris. Dann studierte ich gleichfalls. Ich wollte Schriftsteller werden und landete im Zeitungsgeschäft. Seitdem machte ich mir immer wieder vor, es wäre nur ein vorübergehender Job. So ging es jetzt schon seit zehn Jahren, vielleicht sogar länger.
    An jenem Abend in dem Hotelzimmer betrachtete ich mich für lange Zeit im Spiegel, aber ich rasierte mir weder den Bart ab, noch schnitt ich mir die Haare. Ich dachte an Sean, der jetzt unter der gefrorenen Erde lag, und hatte ein drückendes Gefühl im Bauch. Ich beschloss spontan, dass ich nach meinem Tod verbrannt werden will. Ich will nicht tief unten in der eiskalten Erde liegen.
    Was mir am meisten zu schaffen machte, war die Abschiedsbotschaft. Die offizielle Stellungnahme der Polizei lautete: Nachdem mein Bruder das Stanley-Hotel verlassen hatte und durch den Estes Park zum Bear Lake hinaufgefahren war, hatte er angehalten und eine Zeit lang bei eingeschalteter Heizung den Motor laufen lassen. Sobald die Windschutzscheibe von der Wärme beschlagen war, hatte er seine Botschaft mit einem behandschuhten Finger darauf geschrieben, und zwar spiegelverkehrt, sodass man sie von außen lesen konnte. Seine letzten Worte an eine Welt, zu der zwei Elternpaare gehörten, eine Frau und ein Zwillingsbruder.
    Jenseits von Raum. Jenseits von Zeit.
    Ich konnte es nicht begreifen. Zeit für was? Raum für was? Er war von irgendeiner Verzweiflung getrieben worden, hatte aber nie mit uns
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