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Jack McEvoy 01 - Der Poet

Jack McEvoy 01 - Der Poet

Titel: Jack McEvoy 01 - Der Poet
Autoren: Michael Connelly
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darüber gesprochen. Er hatte die Hand weder nach mir noch nach seinen Eltern oder nach Riley ausgestreckt. Wäre es an uns gewesen, ihm die Hand entgegenzustrecken, obwohl wir keine Ahnung von seinen seelischen Verletzungen hatten? In meiner Einsamkeit auf den Landstraßen kam ich zu dem Schluss, dass das nicht der Fall war. Er hätte nach uns greifen müssen. Er hatte uns der Chance beraubt, ihn zu retten. Und damit hatte er es uns unmöglich gemacht, uns vor unserem eigenen Kummer und unseren Schuldgefühlen zu retten. Mir wurde klar, dass ein beträchtlicher Teil meines Kummers in Wirklichkeit Zorn war. Ich war zornig auf ihn, meinen Zwillingsbruder, wegen dem, was er mir angetan hatte.
    Aber es ist schwer, auf einen Toten zornig zu sein. Und der einzige Weg, den Zorn loszuwerden, bestand darin, die Story anzuzweifeln. Und so begann der Zyklus wieder von vorn. Abstreiten, hinnehmen, Zorn. Abstreiten, hinnehmen, Zorn.
    An meinem letzten Tag in Telluride rief ich Wexler an. Ich spürte, dass er nicht gerade glücklich darüber war, von mir zu hören.
    »Haben Sie den Informanten gefunden, den aus dem Stanley?«
    »Nein, Jack, leider nicht. Ich habe doch gesagt, ich würde Sie auf dem Laufenden halten.«
    »Ich weiß. Trotzdem habe ich noch Fragen. Sie etwa nicht?«
    »Lassen Sie die Sache auf sich beruhen, Jack. Uns allen wird wohler zumute sein, wenn wir diese Geschichte hinter uns haben.«
    »Was ist mit dem SIU? Hat es diese Geschichte auch schon hinter sich? Akte geschlossen?«
    »Vermutlich. Ich habe diese Woche noch nicht mit ihnen gesprochen.«
    »Weshalb versuchen Sie dann immer noch, den Informanten zu finden?«
    »Ich habe Fragen, genau wie Sie. Ein paar lose Enden.«
    »Sie haben Ihre Ansicht über Sean geändert?«
    »Nein. Ich will nur, dass es seine Ordnung hat. Ich möchte wissen, worüber er mit dem Informanten gesprochen hat, wenn er es überhaupt getan hat. Wie Sie wissen, ist der Lofton-Fall immer noch ungeklärt. Ich hätte nichts dagegen, wenn ich ihn an Seans Stelle lösen könnte.«
    Mir fiel auf, dass er ihn nicht mehr Mac nannte. Sean gehörte nicht mehr dazu.
    Am darauf folgenden Montag kehrte ich an die Arbeit bei der Rocky Mountain News zurück. Als ich in den Redaktionssaal kam, spürte ich, dass etliche Augenpaare auf mich gerichtet waren. Aber das war nichts Ungewöhnliches. Ich hatte einen Job, den jeder Journalist gern gehabt hätte. Keine tägliche Hetze, kein Redaktionsschluss. Ich konnte in der gesamten Rocky-Mountain-Region herumreisen und über nur eine Sache schreiben. Mord. Eine gute Mordgeschichte las jedermann gern.
    Manchmal nahm ich ein paar Wochen lang eine Schießerei in einer Siedlung mit Sozialwohnungen auseinander, erzählte die Geschichte des Schützen und die des Opfers und über ihr verhängnisvolles Aufeinandertreffen. Ein andermal schrieb ich über einen Mord in den besseren Kreisen draußen in Cherry Hill oder über eine Schießerei in einer Bar in Leadville. Arme und Reiche, kleine Morde und große Morde. Mein Bruder hatte Recht gehabt, man verkaufte mehr Zeitungen, wenn etwas richtig erzählt war. Und ich musste es richtig erzählen. Ich musste mir Zeit lassen und es richtig erzählen.
    Neben meinem Computer lag ein ungefähr dreißig Zentimeter hoher Stapel Zeitungen. Sie waren die Haupt-Materialquelle für meine Storys. Ich hatte sämtliche Tages-, Wochen- und Monatszeitungen abonniert, die zwischen Pueblo und Bozeman publiziert wurden. Ich durchforschte sie nach kleinen Berichten über Morde, aus denen ich eine große Hintergrundstory machen konnte. Es gab immer eine Menge davon. Das Rocky Mountain Empire hat eine gewalttätige Ader, schon seit den Zeiten des Goldrauschs. Ich hielt immer Ausschau nach etwas Besonderem, nach einer neuen Art des Verbrechens oder ungewöhnlichen Ermittlungen, nach einem Element des Verblüffenden oder einer herzzerreißend traurigen Geschichte. Es war mein Job, solche Elemente auszubeuten.
    Doch an jenem Morgen suchte ich nicht nach einer Idee für eine Story, sondern nach früheren Ausgaben der Rocky und unserer Konkurrenz, der Post. Selbstmorde sind normalerweise kein Thema für Zeitungen, es sei denn, es gibt ungewöhnliche Umstände. Das war beim Tod meines Bruders der Fall gewesen. Ich nahm an, dass darüber berichtet worden war.
    Ich hatte Recht. Zwar hatte die Rocky nicht darüber geschrieben, vermutlich aus Rücksicht auf mich, doch die Post hatte am Morgen nach Seans Tod am Rande des Lokalteils einen kurzen Artikel
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