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Inspector Jury besucht alte Damen

Inspector Jury besucht alte Damen

Titel: Inspector Jury besucht alte Damen
Autoren: Martha Grimes
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sei dies der eigentliche Zweck ihres Ausflugs. «Ich könnte mir denken, daß dir Lady Summerston gefällt. Nebenbei gesagt, ihr gehört das alles hier.»
    Nach langem Schweigen fragte Tommy: «Wie alt ist übrigens diese Carole-anne?»
    Sein Ton war so bemüht gleichgültig, daß es fast weh tat. Jury warf ihm einen schnellen Blick zu, und als er merkte, daß Tommy puterrot angelaufen war, versuchte er, die Frage mit einem Lacher abzutun: «Dieses Geheimnis kennen nur Carole-anne, das Standesamt und Gott. Wenn du mich fragst, so zwei-, dreiundzwanzig. Sie wechselt ihr Alter mit den Kostümierungen. Was zum Anlaß paßt, das trägt sie auch.»
    Tommys Gähnen war genauso falsch wie sein blasierter Ton. «Schätzungsweise eine Ecke älter als ich.»
    Als ob er es nicht geahnt hätte. Jury spürte Tommys verstohlenen Blick und heftete die Augen auf die Windschutzscheibe.
    «Mmm. Komische Sache, das mit dem Alter. In zehn Jahren merkst du den Unterschied nicht mehr.»
    Wie konnte er nur solch einen Blödsinn verzapfen. In Tommys Alter waren zehn Tage wie zehn Jahre. So redete Jury über ihr Zusammentreffen irgendwann in ferner Zukunft.
    « Sie mag Sie echt gern.» Eine Spur Betonung auf dem Sie , eine Spur Konkurrenz.
    «Ich könnte leicht ihr Vater sein.»
    Verzagt sagte Tommy: «Aber Sie haben doch gesagt, daß es in zehn Jahren keinen Unterschied mehr macht. Zeit mißt sich doch für alle gleich, oder nicht?»
    Jury hätte sich in den Bauch beißen können. Bei sich sagte er: Du Riesenblödian, hör endlich auf, ihn trösten zu wollen. Doch die Dummheit obsiegte. «O nein. Diese Kluft läßt sich nun wirklich nicht überbrücken. Mann, das sind ja zwanzig Jahre, mindestens zwanzig. Kannst du dir vorstellen, das Carole-anne zwanzig Jahre auf mich wartet?» Er lächelte.
    Tommy stieß die Tür an seiner Seite auf. Seine Antwort war ganz prosaisch und vernünftig: «Nein, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, daß sie zehn Jahre wartet.»
    Blödian. Jury seufzte.
     
    Tommy sah jetzt die Frau an, er hatte die Augen zusammengekniffen und blinzelte wie jemand, der nach einer Operation aus dem Dämmer auftaucht und versucht, das verschwommene Bild des Gesichts vor sich unterzubringen. «Sadie?»
    Es war der Ausdruck auf ihrem Gesicht, der Jury frappierte, dieser Schock des Erkennens, der sofort zurückgenommen wurde, und schon trat ein anderer an seine Stelle. Sie wischte sich mit der Hand über die Augen genau wie Carol-anne gestern im «Starrdust». Jury spürte, wie sein Magen vor Angst verkrampfte. Es war nicht die Angst, in der Unendlichkeit verloren zu sein, sondern die Furcht vor einer Scheinwelt aus Jazz und Glitzern wie im «Starrdust»; eine Wegwerfwelt, ein Ersatzuniversum.
    «Superintendent», sagte sie. Er hatte den Eindruck, daß es sie Mühe kostete, die Augen von Tommy Diver loszureißen.
    «Das ist Tommy Diver.» Er beendete die Vorstellung nicht.
    «Ich bin Hannah Lean.» Sie streckte die Hand aus, und ihr Gesicht war jetzt ausdruckslos.
    Tommy hatte kaum ihre Finger berührt, da fiel ihm der Arm auch schon bleischwer herab. «Sie sehen genauso aus wie meine Schwester.» Seine Stimme war bitter, sein Gesicht vor Zorn wie ausgetrocknet.
    Damit ging er den Pfad hinunter.
     
    Jury hielt ihn nicht auf, er wußte, Tommy würde stehenbleiben, wenn er außer Sichtweite war.
    Einen Augenblick lang musterten sie sich schweigend, dann sagte sie: «Das war wohl sehr schlau von Ihnen, aber es besagt gar nichts.»
    «Nein? Sie haben ihn erkannt.»
    Sie schob den Ärmel des alten Pullovers hoch, eine nervöse Geste, die Hannah Lean mit Sicherheit an sich gehabt hatte, wandte das Gesicht ab und blickte über die Wasserfläche hin. Grau an einem grauen Nachmittag. Dann drehte sie sich wieder um. «Der Junge sieht meinem Großvater im gleichen Alter sehr ähnlich. Das hat mich erschreckt.»
    Er sagte nichts, sondern wandte sich einfach zum Gehen.
    «Geben Sie auf, Superintendent.»
    Er drehte sich um. «Sie sind Sadie Diver, nicht wahr?»
    Ihr Gesicht war vollkommen still. Nach einem Weilchen sagte sie: «Das ist lachhaft. Ich bin Hannah Lean.»
    Wieder zog sich Jurys Magen zusammen. «Zum Teufel auch, wie können Sie dem Jungen das antun? Er ist erst sechzehn.» Jetzt ging er wirklich.
    Und sie rief hinter ihm her: «Aber wer tut es ihm denn an, Superintendent?»
     
     
    Er hörte die Mundharmonika; leise wehten die Klänge aus dem Boskett, in dem er heute schon gesessen hatte, als sich die weiße Katze durch die
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