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Inspector Jury besucht alte Damen

Inspector Jury besucht alte Damen

Titel: Inspector Jury besucht alte Damen
Autoren: Martha Grimes
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Schein einer Lampe, die an einem Bauwagen hing. Sie ging ein, zwei Stufen hinunter und blieb jäh stehen, als sie Holz auf Stein knirschen hörte und das Quietschen der Ruder auf Metall. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Gestalt in dem kleinen Boot entdeckte. Der lange Mantel und der schwarze Hintergrund der Themse machten es unmöglich, etwas Genaues zu erkennen. Es mußte ein Ruderboot oder eine Jolle sein, an der wohl jemand arbeitete; sie konnte es nicht ausmachen, hatte aber auch nicht die Absicht, auf den Stufen auszuharren, nur um das herauszufinden.
    Sadie begann, die Stufen hinaufzusteigen, rutschte jedoch auf dem nassen Stein aus, blieb mit dem Absatz hängen und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Gab es denn da wirklich nichts zum Festhalten? Im Rutschen bekam sie gerade noch die glitschigen, kalten, bemoosten Stufen zu fassen, die so abgetreten waren, daß sie diesen Namen kaum noch verdienten.
    Die Gestalt aus dem Boot stand jetzt eine Stufe unter ihr und sah sie an.
    Sadie wollte ihren Augen nicht trauen.
    Eine Hand kam aus dem langen, schwarzen Mantel hervor und hielt etwas, dessen Klinge weitaus gemeiner aussah als das, was Sadie bei sich trug. Falls sie versuchen würde, die Treppe hoch zu fliehen, bekäme sie die Klinge in den Rücken.
    Also warf sie sich zu Boden, und während die Gestalt über ihr herumwirbelte, ließ sie sich die Treppe hinunter- und halbwegs in die Themse gleiten. Das lange Messer durchschnitt die dicke, faulige Luft und verfehlte sie um Haaresbreite. Sadie konnte es herabzischen hören.
    Sie zog ihrerseits das Messer aus der Tasche und kletterte ins Boot. Sie kannte sich mit Booten aus, genau wie Tommy. Draußen zog ein schwarzer Schiffsrumpf vorbei, wahrscheinlich ein Frachtkahn auf dem Weg zu den Ziegeleien in Essex. Noch weiter draußen sprenkelten ein paar Leichter das Wasser. Zitternd vor Angst griff sie nach den Rudern, denn die Gestalt setzte ihr nach. Das Schnappmesser entglitt Sadies Händen und fiel in das Bilgenwasser, das sich im Boot gesammelt hatte.
    Sie tastete danach, und als sich ihre Finger darum schlossen, sah sie die weißen Hände, die an der Bordwand zerrten.
     
     
    Tommy Diver stand auf dem Dock und schaute zu den Leuchttürmen von Gravesend und Galleon’s Reach hinüber. Ein schartiger Lichtstrom von Rot und Orange ließ den Nebel über der Flußmündung leuchten, als hätte man Kanonen abgefeuert. Meilenweit erstreckten sich die Docks, Werften und Speicher längs der Themse, bis zur London Bridge und zur Isle of Dogs. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit waren an die achthundert Schiffe gleichzeitig unterwegs zum Londoner Hafen gewesen; jetzt fuhr kaum eins mehr weiter als bis Tilbury.
    Er konnte sich gut vorstellen, wie es zu Zeiten des Indien- und Osthandels ausgesehen hatte: überall lackierte Bugspriete und rostrote Segel wie ein blutunterlaufenes, finsteres Wolkengebilde. Als er versucht hatte, mit seinem Freund Sid darüber zu sprechen, hatte der nur gelacht. Sei nicht so romantisch, Junge. Sid war in Venedig gewesen und hatte lauter Orte gesehen, die Tommy nur vom Hörensagen kannte. Venedig ist erfüllt von Gold- und Blautönen wie ein juwelenbesetzter Drache. Aber das Schiff da (und dabei zeigte er auf eins, das vor Anker lag) ist nur ein alter Kettenhund, der in einem Torweg von Gravesend schläft.
    Tommy spürte plötzlich Gewissensbisse, weil er Tante Glad und Onkel John angelogen hatte; aber sie hätten ihn nie nach London gelassen, nicht mal für zwei Tage. Er fand, er müsse diese Gelegenheit, Sadie zu besuchen, unbedingt nutzen, ganz gleich was sie von ihr hielten. Sid würde ihn decken. Er kuschelte sich noch tiefer in die schwarze Lederjacke, die er sich im Secondhand-Laden von Oxfam von einem Teil des Geldes gekauft hatte, das ihm seine Schwester geschickt hatte. Sie war ihm zu groß, aber echtes Leder, nicht dieses billige, steife Zeugs, das bei jeder Bewegung knatschte. Wenn man mit der Hand darüberfuhr, fühlte es sich daunenweich an.
    Wapping lag keine dreißig Meilen entfernt, Flußlauf und Luftlinie gerechnet. Er kannte den Lauf der Themse in- und auswendig – Tilbury, Greenhithe, Rotterhithe, Bermondsey, Deptford. Er wußte, daß ihm der Fluß und seine Arbeit mit Sid auf dem Schlepper fehlen würden, auch wenn es nur für zwei Tage war.
    Sie hatte gesagt, vielleicht könnte er eines Tages sogar nach Limehouse kommen und bei ihr wohnen, wenn sie erst eine größere Wohnung hätte. Aber die Platte kannte er – die
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