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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut
Autoren: Alix Ohlin
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dann drang unüberhörbar ein schwerer Seufzer über seine Lippen.

    Im Montreal General Hospital fiel ihr später auf, dass beide Paar Ski zurückgelassen worden waren. Die Sanitäter hatten den Mann in den Krankenwagen geladen, und sie war ihnen quer durch Côte-des-Neiges gefolgt. Sie war sich selbst nicht sicher, warum. Weil die Sanitäter sie so angesehen hatten, als wären sie und der Mann zusammen langlaufen gewesen? Weil einer von ihnen in einem Kauderwelsch aus Englisch und Französisch gesagt hatte, «The police –
ils vont vous poser des questions
at the ’ospital», worauf sie artig wie ein Schulmädchen genickt hatte?
    Teils war es Neugier, weil sie wissen wollte, was ihn zu einer solchen Tat getrieben hatte, teils Mitleid, weil jemand, der keinen anderen Ausweg mehr sah, zutiefst verzweifelt sein musste. Außerdemfragte sie sich, warum ausgerechnet sie ihm in die Quere gekommen war.
    Vielleicht wollte sie auch nur einfach herausfinden, was passiert war. Jedenfalls saß sie noch Stunden später im Wartezimmer und erschauderte jedes Mal, wenn sich die Glastür öffnete und ein Schwall eisiger Luft hereinwehte. Der Linoleumboden war mit graubraunem Matsch von der Straße verschmiert; vom Bürgersteig drangen Abgase und Zigarettenrauch zu ihr herein. Bislang hatte sich kein Polizist blicken lassen, der ihr Fragen stellen wollte. Der Mann war auf einer Trage davongeschoben worden, umringt von lauter Krankenschwestern, die sich über seinen immer noch leblosen Körper gebeugt hatten. Grace wartete, auch wenn sie nicht recht wusste, auf wen oder was. Als sie sich an die Ski erinnerte – wahrscheinlich hatte sie längst jemand mitgenommen –, schlug sie sich mit der Hand gegen die Stirn. Ihre eigenen waren praktisch brandneu. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr; es war sieben, inzwischen also stockdunkel auf dem Berg. Sie war müde und hungrig und wollte nach Hause. Zuvor aber musste sie unbedingt wissen, wie es ihm ging. Sie ging zum Empfangsbereich und sprach die Schwester hinter dem Tresen an.
    «Entschuldigen Sie bitte», sagte sie. «Kann ich ihn sehen?»
    Die Schwester sah nicht einmal von ihrem Schreibkram auf.
«Oui, Madame?»
    «Den Mann, der vorhin eingeliefert wurde. Der Langläufer.»
    «Wer?»
    «Ich weiß nicht, wie er heißt. Er wurde auf dem Berg gefunden.»
    «Und wissen nicht, wie er heißt?»
    «Ich habe ihn entdeckt.»
    «Sie sind also keine Angehörige?» Die Schwester klang misstrauisch, fast feindselig.
    «Ich bin Therapeutin», sagte Grace spontan.
«Une psychologue?»
Ihr Französisch schien die Schwester milder zu stimmen, da sie nickte. Zudem nahm sie offenbar an, dass Grace aus beruflichenGründen hier war, und Grace beließ sie in dem Glauben. «Ich muss ihn so schnell wie möglich sehen», fuhr sie mit so viel Nachdruck wie möglich fort.
    Die Schwester zögerte einen Augenblick, zuckte dann aber mit den Schultern und deutete zum Fahrstuhl. «Zimmer 316.»
    Grace klopfte an, ehe sie eintrat. Der Mann trug ein Krankenhausnachthemd und lag auf dem Rücken; in seinem Arm steckte eine Kanüle. Der leere Gesichtsausdruck, mit dem er an die Zimmerdecke starrte, veränderte sich nicht, als sie hereinkam. Welchen Schmerz auch immer er dort oben auf dem Berg empfunden haben mochte, in seinen Zügen spiegelte sich nichts mehr davon; er hätte genauso gut auf einen Zug warten können. An seinem Hals zeichnete sich die rote, tief eingegrabene Spur des Stricks ab. Sie räusperte sich und setzte sich auf den Stuhl, der neben dem Bett stand.
    «Sprechen Sie Englisch?», fragte sie. Keine Antwort.
«Vous parlez français?»
Wieder nichts. «Da ich mein Highschool-Spanisch längst vergessen habe, sind das so ziemlich die einzigen Alternativen.» Seine Sachen lagen zusammengelegt auf dem Nachttisch. «Ich werde jetzt mal nachsehen, ob ich irgendwie Ihren Namen herausfinden kann, es sei denn, Sie untersagen es mir ausdrücklich.» Sie ging seine Kleidung durch, tastete nach einer Brieftasche. Er machte keine Anstalten, sie daran zu hindern, auch nicht, als sie die Brieftasche gefunden hatte und seinen Führerschein herausnahm.
John Tugwell
. Er sprach also doch Englisch. Sie legte die Sachen wieder zusammen und nahm wieder Platz. «John, ich heiße Grace», sagte sie. «Ich bin Therapeutin, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich hier bin. Ich war langlaufen und habe Sie gefunden. Der Ast, an dem Sie den Strick befestigt hatten, ist abgebrochen. Ich habe den Notarzt gerufen.» Außer einem Zucken
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