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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut
Autoren: Alix Ohlin
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wechseln. «Was machen Sie eigentlich beruflich?»
    «Ich arbeite in einem Druck- und Kopierladen.»
    «Jede Menge Papier, was?»
    «Hochzeitseinladungen, Briefpapier, Dankeskärtchen. Während Sie eine Kommandotherapeutin sind, die ihre Hilfe Menschen in Not aufdrängt.»
    «Ich weiß nicht, wie Sie zu Ihrer Arbeit stehen», sagte Grace zögernd. «Aber ich kann zwischen Beruflichem und Privatem nur schwer trennen. Wenn ich den ganzen Tag als Therapeutin gearbeitet habe, kann ich mich nach Dienstschluss nicht auf Knopfdruck in jemand anderen verwandeln. Verstehen Sie, was ich meine?»
    In jenem Moment erkannte sie, dass er sie endlich als das sah, was sie wirklich war, nicht als Hindernis oder als Störenfried, sondern als Person. Dass er sie wahrnahm. Er starrte sie an, und sie spürte, wie sie errötete, ohne genau zu wissen, warum.
    «Bei meiner Arbeit fällt mir das nicht so schwer», sagte er lächelnd.
    «Tut Ihnen der Knöchel weh?»
    «Halb so schlimm», sagte er.
    Es war Mitternacht. Der Hund schlief in Tugs Schoß. Seine Exfrau war nicht aufgetaucht. Grace betrachtete ihn ein Weilchen im Dunkel des seltsamen Wohnzimmers. Um halb eins waren sie beide eingeschlafen, sie in ihrem Sessel, er auf dem Sofa, und als sie morgens aufwachte, war er immer noch am Leben.

    Nachdem sie rasch geduscht und sich angezogen hatte, traf Grace noch vor neun in ihrer Praxis ein. Den missmutig dreinblickenden Tug hatte sie auf seinem Sofa zurückgelassen; weder hatte sich seine Stimmung gebessert noch wollte er darüber sprechen, was auf dem Berg passiert war. Erst hatte sie gezögert, ihn allein zu lassen,doch sie konnte nicht bleiben und sich endlos mit seinem Leben beschäftigen, sosehr sie auch versucht war. Der Morgen verging im Nu, auch wenn ihre Gedanken immer wieder zu Tug zurückschweiften, seine Stimme wie der Refrain eines Lieds in ihrem Hinterkopf widerklang. Dauernd kamen ihr seine ausdruckslosen Züge in den Sinn, als er oben auf dem Berg im Schnee gelegen hatte, das zornige Rot an seinem Hals und wie sein Blick ebenso plötzlich wie unerwartet zum Leben erwacht war, als er dem Arzt diese durch und durch absurde Geschichte aufgetischt hatte. Was für ein Mensch war er?
    Wieder und wieder verdrängte sie ihre Neugier und versuchte, sich auf ihre Patienten zu konzentrieren, den ganzen normalen Alltagswahnsinn in ihrer Praxis – Frank Lavallée, ein fünfzigjähriger, mitten in seiner Scheidung steckender Alkoholiker. Mike und Denise Morgenstern, ein Ehepaar aus Rosemount, das nicht miteinander reden konnte, ohne sofort in Streit zu geraten. Annie Hardwick, 16 Jahre alt, die sich ritzte. Während sie mit ihnen sprach, fokussierte sie den Blick auf ihre Gesichter. Unablässig bewegten sich ihre Münder, pressten sich ihre Lippen aufeinander, feucht von Speichel oder Schaum, wenn dort Wut aufkam, wo sich vorher Frust und Verletzung abgezeichnet hatten. Zwischen Annies Lippen blitzte ein ums andere Mal ihre Spange auf, die im Licht der Bürolampe funkelte wie Signale von einem weit entfernten Schiff.
    Sollte Annie wieder einmal den Drang verspüren, sich zu ritzen, erklärte Grace, solle sie sich vorstellen, sie wäre ein Filmstar – die übliche Teenager-Vorstellung eines erfolgreichen Lebens –, und diese Energie auf etwas verwenden, das ein Filmstar tun würde, zum Beispiel Fitnesstraining oder Textstudium (wofür sich ihre Hausaufgaben anboten). Daran wollten sie arbeiten. Zögernd zeigte Annie ihr das Tagebuch, in dem sie ihre Gedanken niederschrieb. Fein säuberlich hatte sie all ihre zerstörerischen Impulse notiert, den Durst nach Schmerz, den Hunger, ihr eigenes Blut zu sehen. Nur beim Ritzen könne sie sich wirklich fühlen, schrieb sie. Siesehnte sich danach, genoss die wachsende Vorfreude und dann die geheime, kontrollierte Erfüllung, den intimen Schmerz, mit dem sie sich verwöhnte, als sei es ein Geschenk. Auf dem Tagebuch prangte das Foto einer Boygroup, das sie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte, und daneben ein Schnappschuss des Strandhauses, wo sie die Sommerferien mit ihrer Familie verbrachte, sowie ein Streifen Passbilder, die sie von sich und einer Freundin in einem Fotoautomaten im Einkaufszentrum gemacht hatte. Die Bilder waren ganz heile Welt, süß und unschuldig, ihre Notizen unglücklich, voller Gewalt und Qual.
Ich bin krank
, stand dort.
Ich bin der letzte Dreck
.
    Grace hatte ihr eine Aufgabe gegeben: einen Brief aus der Zukunft an sich selbst zu schreiben, eine glückliche
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