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Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)

Titel: Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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    E ine unheimliche Ruhe überkam den Gefangenen. Seine Schreie verstummten. Nein, wie ein Feigling wollte er nicht sterben. Zwar hatte Prinz Montezuma ihren Aufstand niedergeschlagen und fünfzehntausend Gefangene nach Tenochtitlan davongeführt, aber den Mut der aufständischen Huaxteken hatte er damit nicht gebrochen.
    »Wir sind Helden«, flüsterten die nach langem Marsch unter glühender mexikanischer Sonne ausgedörrten und aufgesprungenen Lippen des huaxtekischen Kriegers. »Lang lebe die Freiheit! Nieder mit dem Schlächter Montezuma!«
    Ganz reglos lag er jetzt da und wartete auf den Schmerz des Opfermessers in seiner Brust. Aber der Schmerz kam nicht. Stattdessen beugte sich einer der Schergen, die ihn festhielten, damit die Priester ihn TÖTEN konnten, nach vorne und brachte sein dick mit Schminke beschmiertes Gesicht bis auf eine Handspanne an das des Gefangenen heran.
    Und da erkannte der Gefangene den Mann hinter der Maske.
    »Prinz Montezuma!«, wisperte er, und neuerliches Grauen ergriff Besitz von ihm und schnürte ihm die Kehle zu. Allzu schrecklich waren die Geschichten, die er und seine Mitgefangenen auf dem qualvollen Marsch von ihren Bewachern über diesen Dämon in Menschengestalt vernommen hatten. Fast schien es, so meinten die Bewacher, dass Montezuma nicht an den Opferfesten teilnahm, um die Götter zu ehren, sondern um sich selbst an der Lebensenergie der Getöteten zu laben. Denn mit jedem Herz, das in die aus einem einzigen mächtigen Jaspisblock gemeißelte Schale flog, schien der Prinz auf unaussprechliche Art machtvoller, kräftiger zu werden.
    Und was war das für ein rätselhafter goldener Kasten, den Montezuma stets bei sich führen sollte und der ihn, wie es hieß, auch auf seinem Feldzug gegen die Huaxteken begleitet hatte? Es wurde hinter vorgehaltener Hand geflüstert, dass Bilder von Wesen diesen Kasten zierten, wie keines Menschen Auge sie je erblickt. Geschöpfe der Luft und des Wassers zugleich sollten es sein, Tiermenschen mit ledrigen Flügeln und sich windenden Fangarmen. Und keiner durfte den Kasten öffnen außer Prinz Montezuma ...
    Die Augen des huaxtekischen Gefangenen weiteten sich, als sich Montezumas grausig geschminktes Gesicht zu einem höhnischen Lächeln verzog.
    »Helden seid ihr?«, spottete die graugrüne Maske. »Helden?« Ein kaltes, grollendes Lachen brach aus dem Spalt in der Schminke, der Montezumas Mund war. »Ihr seid keine Helden. Ihr seid Fraß. Geier werden eure Körper zerhacken. Und eure Seelen - eure Seelen gebe ich ihm zur Speise, ihm, dessen Name nicht genannt werden darf in den Sphären der Menschen. Ihm, der - in meinem goldenen Schrein wohnt!«
    Die Geschichten sind Wahrheit, dachte der Gefangene, und eine eisige Lähmung legte sich über seine bebenden Gliedmaßen. Entsetzliche Wahrheit.
    »Er«, fuhr Montezuma unbarmherzig fort, »wird von dir zehren, ewig und ewig. Und ich mit ihm. Denn wisse, du bist verflucht!«
    Der Schrei, der sich nun der Kehle des Gefangenen entrang, hatte nichts Menschliches mehr. Es war der Schrei einer nackten Seele, die von der Hand des Bösen in einen Abgrund ewiger Verdammnis geschleudert wird.
    Die graugrüne Maske zog sich zurück, aber das sah das schreiende Bündel, das einmal ein Mensch gewesen war, schon nicht mehr. Ein Wink, und das funkelnde Obsidianmesser senkte sich auf seine zuckende Brust herab, fetzte den Brustkorb auseinander.
    Hände griffen zu, packten das pulsende Herz, zerrten es aus seiner schützenden Höhle und warfen es in die ausgemeißelte Schale. Auf dem Altarstein verblutete ein bebender Körper.
    Der erste von 12 300 Gefangenen, den Tenochtitlan bei diesem Opferfest auf seinen Altären schlachtete.
    »Huitzilopochtli! Huitzilopochtli!«
    Drei Tage dampfender Blutdurst, Schreie, Stöhnen, Wimmern. Drei Tage Raserei.
    »Huitzilopochtli! Huitzilopochtli!«
    Drei Tage rotes Wasser in steinernen Rinnen. Drei Tage Götterorgien.
    »Huitzilopochtli! Huitzilopochtli!«
    Huitzilopochtli? Ein kaum merkliches Lächeln spielte um die Lippen des Mannes, der sich am Abend dieses dritten Tages vom Altarstein abwandte, auf dem die letzten Opfer unter den Messern der Priester ihr Leben aushauchten. Rings um ihn taumelten die Menschen vor Müdigkeit; war der Blutrausch verflogen, würden sie zusammenbrechen und tagelang schlafen, wo sie gerade lagen.
    Auch er, Prinz Montezuma, der Blutige, Sieger über die Huaxteken und in diesen Tagen Helfer der Priester am Altarstein, hatte kein Auge zugetan.
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