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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut
Autoren: Alix Ohlin
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aufreibenden und brutalen Gespräche, das auf ihren Schultern lastete. Stattdessen unterhielten sie sich über Politik, über das Wetter, darüber, ob sie vielleicht ein Haus kaufen sollten. Nie sprachen sie über Sex, obwohl sie kaum noch miteinander schliefen. Nie sprachen sie über Probleme, weder ihre eigenen noch die anderer Leute. In anderen Worten, sie machten genau das, was professioneller Meinung nach durch und durch falsch war.
    Als sie eines Samstagmorgens vom Einkaufen nach Hause zurückkehrte, kam Mitch mit merkwürdig rotem Gesicht aus dem Schlafzimmer. Zunächst sagte sie nichts, sondern verstaute die Lebensmittel in der Küche. Als Mitch sich unter die Dusche verzogen hatte, ging sie ins Schlafzimmer und sah sich auf seiner Seite des Betts um. Sie entdeckte das Pornoheft, das er hastig unter die Matratze gestopft hatte. Die Mädchen waren jung und hatten riesige falsche Brüste. Im ersten Moment fand sie diesen Umstand am verstörendsten – wie wenig Ähnlichkeit diese Mädchen mit echtenFrauen hatten. Aber das stimmte nicht; am meisten verstörte sie, dass ihr Mann ein Pornoheft als Wichsvorlage benutzte, während sie im Supermarkt war. Sie versuchte, mit sich zu sprechen wie mit einem Patienten:
Ein derartiges Verhalten ist weder ungewöhnlich noch bedeutet es automatisch einen Betrug
. Aber das war Unfug. All ihre therapeutischen Ratschläge gingen in Rauch auf angesichts dessen, was sie gerade erlebt hatte.
    Ein Handtuch um die Hüften geschlungen, betrat Mitch die Küche, blieb jedoch abrupt stehen. Als könne er ihre Gedanken lesen, sagte er: «Nein. Das Verstörendste daran ist, dass ich mich den Mädchen auf diesen Bildern emotional näher fühle als dir.»
    Grace begann zu weinen, nicht Tränen der Wut oder der Trauer, sondern Tränen von schlichtem, überwältigendem Schmerz. Mitch tröstete sie; darin war er schon immer gut gewesen. Und dann – das Pornoheft lag auf dem Boden neben dem Bett – schliefen sie miteinander mit einer Art erbärmlicher, schlüpfriger Lust, an die sie sich höchst ungern erinnerte. Sie trennten sich erst ein Jahr später, doch im Rückblick wusste sie, dass ihre Ehe an jenem Tag vorbei gewesen war.
    Nun lebte sie allein in einer Dreizimmerwohnung in Notre-Dame-de-Grâce. Seit der Scheidung hatte sie sich mit ein paar anderen Männern getroffen, aber Beziehungen waren daraus nicht entstanden. Mittlerweile fünfunddreißig, dachte sie, dass sie vielleicht einfach nicht für die Ehe geschaffen war – eine Aussage, die sie von der Hand gewiesen oder zumindest mit einer hochgezogenen Augenbraue bedacht hätte, wäre sie von einem ihrer Patienten gekommen. Das Privileg des Therapeuten bestand manchmal eben darin, wieder die alten Scheuklappen anlegen zu können.

    Die meisten Patiententermine waren Routine, bis Annie Hardwick an die Reihe kam. Bei einem früheren Termin hatte Grace die rosa glänzenden Narben gesehen, die sich vom bleichen Bauch des Mädchens bis zu ihren Rippen zogen; sie hatte ihr T-Shirt mit vorgetäuschter Scham gelüftet, aber nicht verbergen können, wie stolz sie auf den Schaden war, den sie sich zugefügt hatte. So verbreitet Ritzen auch war, zuckte Grace innerlich zusammen, als sie die in Annies Haut eingegrabenen Male erblickte. Das Mädchen war noch keine Schönheit, würde aber dazu heranwachsen. Sie war noch nicht eins mit sich selbst und ihrem Körper. Ihre Gesichtszüge waren noch nicht richtig ausgeprägt, und unter ihrer fast durchsichtigen Haut an Schläfen und Kinn schimmerten blaue Venen. Ihr dünnes, schmutzig blondes Haar hing schlaff auf ihre Schultern, und ihre Stirn war mit kleinen roten Pickeln übersät. Trotzdem, in ein paar Jahren, wenn sie gelernt hatte, sich aufrecht hinzusetzen, noch ein wenig gewachsen war und ihr Körper zu ihren Zügen passende Rundungen herausgebildet hatte, würde sie wie der Filmstar aussehen, der sie so verzweifelt sein wollte.
    Doch Annie wusste nichts davon. Alles, was sie sah, war die unendliche Distanz zwischen dem, was sie war, und der Perfektion, nach der sie sich so sehr sehnte. Ihr Vater war Kieferorthopäde und ihre Mutter Rechtsanwältin, und sie hatten sie in dem Bewusstsein erzogen, die höchsten Maßstäbe an sich anzulegen. Sie war gut in der Schule, sportlich aktiv und beliebt, doch all das blieb ihr verborgen oder war zumindest nicht greifbar für sie. Ihre Perspektivlosigkeit hatte geradezu monströse Ausmaße. Wenn sie in den Spiegel blickte, sah sie ein durchschnittliches,
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