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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut
Autoren: Alix Ohlin
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zu berühren – mit ihren sprunghaften Verwandlungen, mal kindlich, mal erwachsen, dem scheuen Glitzern ihres Spangenlächelns, der Unbarmherzigkeit, mit der sie mit sich ins Gericht ging. Grace wünschte, sie hätte ihr die simple Wahrheit mitteilen können: dass ihr auf der Highschool dasselbe passiert war, sich aber letztlich alles zum Guten gewendet hatte, auch wenn es alles andere als eine wünschenswerte Erfahrung gewesen war. Doch hätte sie damit gegen die therapeutischen Grundsätze verstoßen, ganz abgesehen davon, dass sie noch nie den Drang verspürt hatte, jemandem davon zu erzählen. Annie war irgendwie anders als ihre anderen Patienten, und sie wollte die Blase des Unglücks zum Platzen bringen, die das Mädchen umgab. Außerdem hatte es Grace gerührt, wie sie über den Vater des Babys gesprochen, gleichsam eine schützende Hand über ihn gehalten hatte. Und nicht zuletzt hatte sie Grace’ Erinnerungen geweckt.
    Sie biss sich auf die Unterlippe. «Okay, Annie», sagte sie. «Ich halte dicht.»

    Als sie die Praxis um halb sechs verließ, dachte sie nicht mehr an Annie, sondern an ihr eigenes Leben. Damals in der Highschool war sie eine erstklassige Abfahrtsläuferin, eine begnadete Wintersportlerin gewesen. Die Wochenenden hatte sie in überheizten Bussen vor sich hin gedöst, entweder hinauf zum Blue Mountain oder von dort zurück. In ihrem Elternhaus belegten ihre Trophäen, Medaillen und unscharfe Fotos, auf denen zu sehen war, wie sie in aerodynamischer Hocke über die Ziellinie sauste, eine ganze Regalwand mit Beschlag. Es war sogar die Rede von einer Berufung in die Landesauswahl und einer Teilnahme an den Olympischen Spielen gewesen. Ihr Trainer sagte, er hätte nie zuvor eine so selbstsichere, furchtlose Skifahrerin erlebt. Ihr Talent verdankte sich gleichermaßen Instinkt wie Gewohnheit: Sie fuhr Ski, weil sie es schon immer getan hatte und weil ihr Körper wusste, wie es funktionierte, ohne dass sie groß etwas lernen musste. Selbst die Muskelkater, die sie zuweilen mitten in der Nacht weckten, fühlten sich an wie ein Teil von ihr, schienen ihr ebenso angeboren wie das Atmen. Dann, im Jahr ihres sechzehnten Geburtstags, zog sich Kevin, mit dem sie ging, während eines heiß umkämpften Halbfinales in einer scharfen Kurve eine schwere Knieverletzung zu.
    Kevins sehniger, bronzefarbener Körper war der erste, den Grace so gut wie ihren eigenen kannte. Sie war ihm auf der Rückbank eines Busses, in diversen Autos und in einem Zimmer bei ihrer Freundin Cheri nähergekommen, während deren Eltern verreist gewesen waren. Er hatte kaum Haare auf der Brust, und an seinen muskulösen Waden zeichnete sich ein Geflecht von Venen ab. Der Umstand, dass sein Körper sie zunächst eingeschüchtert hatte mit seinen Konturen und Gerüchen, seiner sexuellen Bereitschaft und den Haaren, die an den ungewöhnlichsten Stellen sprossen, ließ ihre spätere Vertrautheit noch bedeutender erscheinen; sie schien sie sich gleichsam verdient zu haben. Als sie ihn mit bandagiertem und eingegipstem rechten Bein im Krankenhausbett sah, fühlte sie den pochenden Schmerz in ihrem eigenen Körper.
    Zwei Wochen nach seinem Unfall verkündete Grace, dass sie die Skier an den Nagel hängen würde. Ihre Eltern, Mannschaftskameraden und Trainer glaubten, bei ihrer Entscheidung handele es sich um einen Akt falsch verstandener Solidarität. Kevin brach angesichts dieses Liebesbeweises in Tränen aus, was aber vielleicht auch nur an den Schmerzmitteln lag. Ihre Eltern ermutigten sie, sich ihren Ängsten zu stellen und sich wieder auf die Bretter zu wagen. Grace setzte ihnen ruhig und sachlich auseinander, dass sie mit dem Skifahren abgeschlossen habe, es gebe Wichtigeres im Leben. In Wahrheit hatte sie kurz vor Kevins Unfall festgestellt, dass sie schwanger war. Sie wusste genau, was sie tun würde, und nahm die Sache so schnell in Angriff, als würde sie eine Piste hinunterschießen: Sie ließ das Kind abtreiben. Kevin, ihren Eltern und ihren Freundinnen erzählte sie nichts von alldem. Sie zog die Sache einfach durch.
    Zu ihrem Erstaunen hatte sie hinterher tatsächlich das Interesse am Skisport verloren, und Kevins Unfall war die perfekte Tarnung. Zunächst hatte sie geglaubt, dass sie, wie bei einer Grippe, ein paar Tage zur Erholung benötigen und dann unter dem Jubel ihrer Eltern und Teamkameraden wieder auf die Piste zurückkehren würde. Doch bald darauf stellte sie fest, dass ihr bei der Abtreibung offenbar auch
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