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In einer anderen Haut

In einer anderen Haut

Titel: In einer anderen Haut
Autoren: Alix Ohlin
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seiner Lider deutete nichts darauf hin, dass er bei Bewusstsein war. Sie wusste nicht einmal, ob er sie überhaupt hörte. Seine Hände ruhten flach und entspannt auf der Bettdecke.
    «In dem Teil des Gebiets trifft man normalerweise nicht viele Leute an», sagte sie. «Aber deswegen haben Sie sich die Gegend wahrscheinlich auch ausgesucht. Ich weiß nicht, was ohne mich passiert wäre. Hätten Sie es nach einer Weile noch mal versucht?»
    Er schwieg.
    Um seine Augen hatten sich tiefe Falten eingegraben, als würde er viel Zeit unter freiem Himmel verbringen. Seine Lippen waren unnatürlich blass. Sein Körper wirkte unter der dünnen Krankenhausdecke robust und muskulös. Ob er ein gut aussehender Mann war, ließ sich unmöglich sagen, während er dort im Bett lag. Alles Leben, das seinen Zügen Charakter und Eigenheit verliehen hatte, war aus ihm gewichen. Sie rückte ein Stück näher. Selbst aus dieser geringen Distanz schien sein Körper keinerlei Wärme auszustrahlen, als wäre er immer noch unterkühlt.
    «Sie sind von den Toten auferstanden», sagte sie. «Vielleicht wollten Sie das gar nicht, aber so ist es nun mal.»
    Im selben Augenblick schlug er zum ersten Mal die Augen auf. Sie waren grün. Dann blinzelte er noch einmal und schloss sie wieder.
    «Wenn Sie reden wollen», sagte Grace, «höre ich Ihnen gerne zu.»

    Sie rollten ihn auf einer Trage aus dem Zimmer und brachten ihn mit einem schwarzen Spezialstiefel wieder herein. Der Arzt sprach mit Grace, als hätte sie ein Recht auf nähere Informationen. Sein Knöchel war verstaucht. Die Kratzer und blauen Flecken auf seinem Gesicht waren nicht der Rede wert. Eine Krankenschwester brachte ein Paar Krücken herein. Der Arzt, der erschöpft aussah und höchstens 25 sein konnte, gab ihm ein Rezept für Schmerzmittel und meinte, er solle in zwei Wochen wieder vorbeikommen. Grace sagte, sie würde ihn nach Hause fahren.
    «Bevor wir Sie entlassen können, müssen wir uns über Ihren Zustand Klarheit verschaffen», sagte der Arzt in vagem Tonfall. «Dafür wird ein Termin mit der psychiatrischen Abteilung nötig sein», fuhr er förmlich fort.
    Sie nickte.
    «Wir vereinbaren einen Termin für Sie», sagte der Arzt und kehrte ihm den Rücken zu.
    Der Mann warf ihr einen flehenden Blick zu. Sie zuckte mit den Schultern; er hatte ihre Hilfe ja bereits zurückgewiesen.
    Er hustete und sagte: «Eigentlich wollte ich das gar nicht.» Seine Stimme war heiser und verschleimt; sie klang, als wären die Worte tief in ihm gefangen, wie in einer Höhle oder einem Spinnennetz.
    «Was meinen Sie damit?», fragte der Arzt.
    «Ich wollte bloß wissen, wie sie reagiert.» Tugwell wies mit dem Daumen zu Grace hinüber. Seine Stimme war schmerzhaft kehlig; er schluckte merklich, nachdem er gesprochen hatte, doch dann gelang es ihm, einen Tonfall spielerischer Ironie anzuschlagen. «Wir waren zusammen langlaufen, und ich hab ihr gesagt, ich würde Selbstmord begehen, und bin in die andere Richtung abgehauen. Ich habe ihr gesagt, ich hätte einen Strick dabei – und dass ich nicht lange fackeln würde. Und dann hat es
neun Minuten
gedauert, bis sie endlich aufgetaucht ist! Ehrlich, ist das zu glauben? Ich habe auf die Uhr gesehen!»
    «Sie haben Ihrer Frau mitgeteilt, Sie würden Selbstmord begehen, um ihre Reaktion zu testen, und dann die Zeit gestoppt?» Der Arzt runzelte skeptisch die Stirn. Womöglich dachte er, dass er die Geschichte nicht richtig verstanden hatte.
    «Fast zehn Minuten», fuhr Tugwell fort. Als er sie anblickte, zog sich einen Moment lang ihr Herz zusammen.
    Der Arzt musterte sie irritiert. Einen Augenblick lang zögerte sie, sich auf seine Geschichte einzulassen, die so absurd war, dass sie kein halbwegs vernünftiger Mensch auch nur in Erwägung gezogen hätte. Dieser Mann benötigte professionelle Hilfe, angefangen miteinem psychiatrischen Gutachten. Doch in seinem Blick lag ein Ausdruck, als hätten sie eine geheime Absprache getroffen, und der Lebensfunke in seinen Augen strahlte so unvermittelt hell, dass sie ihn unbedingt bewahren, vom leisen Flackern zu einer richtigen Flamme fächeln wollte.
    Vielleicht lag es auch daran, dass sie ihn hier im Krankenhaus ohnehin nur kurz und oberflächlich abfertigen würden. Oder weil sie die Verantwortung dafür trug, dass er überhaupt hier gelandet war. Oder weil sie sich freute, dass er nun doch auf ihre Hilfe zählte.
    «Er ist auch nie für mich da», sagte sie so genervt wie eben möglich.
    Der Arzt gab
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