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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume
Autoren: Paola Calvetti
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ja, dass sich die Änderungen längst vollzogen hatten.
    Ich heiße Olivia und bin dreiunddreißig Jahre, elf Monate und zwölf Tage alt. Das reicht, um tausendfach enttäuscht worden zu sein, ist aber immer noch hinreichend jung, um sich hin und wieder überraschen zu lassen. Im Kindergarten war ich schmächtig und litt lange unter der Vorstellung, eine hagere Bohnenstange wie die Geliebte von Popeye zu werden, bis ich dann irgendwann herausfand, dass Olivia vor der Ankunft des Seemanns mit der Pfeife keineswegs ein Mauerblümchen gewesen war, sondern die eigentliche Protagonistin des Comics. Meinen Namen verdanke ich allerdings nicht ihr, sondern meiner Großmutter väterlicherseits, die bei der Geburt meiner Tante Emma gestorben war, weshalb sich diese unaufhörlich und in aller Form rechtfertigen zu müssen glaubt. Entsprechend hat sie auch nicht geheiratet und widmet ihre gesamte Zeit ihrer Arbeit als Richterin am Jugendgericht. Geboren bin ich am 10. Januar 1976 um 9:29 Uhr, angeblich ein viel zu kalter Tag für ein vernunftbegabtes Wesen, um sich freiwillig in die Welt hinauszubegeben.
    Auch als ich vorhin den Sitz von Breston & Partners verließ, war es 9:29 Uhr und eiskalt. Die Schneeflocken hatten die Größe von Blütenpollen. Das kann kein Zufall sein.
    Allerdings hinterließ kein Flugzeug einen Kondensstreifen am Himmel.
    Alles war still. Nicht einmal von oben kam ein Zeichen.
    Die anderen haben mich sicher beobachtet, aber niemand hat etwas Belangvolleres als ein träges » Ciaao« von sich gegeben. Eine Geduldsprobe. Ich musste erst einmal raus – raus aus diesem düsteren Gebäude, in dem ich Hunderte von Werktagen und zusätzlich noch endlose Wochenenden verbracht hatte, um Projekte für besonders launische Kunden zu optimieren. Aber wohin? Wäre ich in diesem Zustand nach Hause gegangen, hätte ich mich nur auf dem Sofa zusammengerollt und wäre unaufhaltsam auf den Abgrund des Selbstmitleids zugeschliddert.
    Nein.
    Besser in der Gegend herumlaufen und keine überstürzten Entscheidungen treffen. Ziele hatte ich sowieso nicht, weder kurzfristige noch mittelfristige noch langfristige. Nur nebelhafte Ideen und ziemlich vage Vorstellungen, wie ich sie verwirklichen könnte. Ich bog in die erste Straße rechts ein, die unter der pulvrigen Schneeschicht wie ein Raum wirkte, den schon lange niemand mehr betreten hatte. Mit beiden Händen umklammerte ich den Pappkarton, der die vermischten Überreste meiner Vergangenheit enthielt, und sah einer unsicheren Zukunft entgegen.
    Im Gehen denkt es sich besser. Das sagte auch Jim Morrison, als er die Regentage besang, die es einem erlauben, erhobenen Kopfes einherzuschreiten, obwohl man weint. Weint man, wenn es schneit, beachtet einen erst recht niemand. Und sollte tatsächlich ein Passant nichts Besseres zu tun gehabt haben, als mich anzuschauen, hätte er mich im schlimmsten Fall für eine verkappte Mrs Dalloway gehalten, die unter dem Vorwand, ihre Handschuhe zu suchen, durch die Gegend irrt und Meisterwerke ausbrütet. Was ein wenig aus dem Rahmen fiel, war der Pappkarton: Wer läuft schon mit einem derart sperrigen Teil durch den Schnee? Ein Verrückter. Oder eine junge Frau, die sich aus Gründen, die sich ihrem Einfluss entziehen, auf der Straße wiederfindet.
    Und los. Weitergehen. Weitergehen. Weitergehen.
    Im Grunde war das hier ja nichts als ein außerplanmäßiger Spaziergang. Nicht schlimm also, wenn der Schulterriemen verrutschte, die Absätze einsanken, die Haare troffen und ich nichts so dringend nötig hatte wie ein bisschen Ruhe. Ich bog rechts ab, dann links, dann überquerte ich einen kleinen Platz und betrat eine Gasse mit derart unberührten Bürgersteigen, dass ich am liebsten auf Zehenspitzen gegangen wäre, um den Anblick nicht zu zerstören. Zwei kleine Jungen mit tomatenroten Jacken und blauen Mützen übernahmen es an meiner Stelle, die weiße Leinwand zu beschmieren. Sie zogen eine deutlich genervte junge Frau in Richtung des Schaufensters, das am Ende der Straße leuchtete. Ich folgte ihnen, und auf halbem Weg erkannte ich den Grund für ihre Beharrlichkeit. An diesem Schlaraffenland konnte man einfach nicht vorbeilaufen: An mit Silberfäden verflochtenen Samtbändern hingen Weihnachtsmänner aus Marzipan über Marmeladentörtchen und Baisers, die zu einem Eisberg unberührter Süße aufgetürmt
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