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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume
Autoren: Paola Calvetti
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Es ist 10:23 Uhr, und seit ungefähr siebenundsiebzig Minuten habe ich keinen Job mehr.
    Jetzt denken Sie bitte nicht gleich an diese blonde New Yorkerin, die von den Fernsehkameras der Welt aufgenommen wurde, als sie mit einem Pappkarton unterm Arm das Büro von Lehmann Brothers verließ, denn damals war September, in Manhattan schien die Sonne, und diese Frau mit den glatten blonden Haaren, dem ungeschminkten Gesicht, den Sandälchen an den Füßen und der spärlichen Bekleidung war ein Ausbund an Eleganz. Sie ist zur Ikone geworden, dem Symbol einer Epoche, während ich hier mit aufgesprungenen Lippen und eiskalten Füßen sitze, die Haare kraus wie Endiviensalat.
    Gefeuert wurde ich auch, aber ich müsste eigentlich Gummistiefel tragen. Da ich meine Klamotten horte – man weiß ja nie, was mal wieder in Mode kommt –, befinden sich in meiner Sammlung etliche Paar Stiefel, Leder und Wildleder, mit und ohne Absatz, allerdings alle in Schwarz- oder Brauntönen. Immer wenn der Herbst naht, also mindestens einmal im Jahr, nehme ich mir vor, mir bunte Gummistiefel zu kaufen. Hätte ich es getan, würde ich meine Zeit ebenfalls in dieser Bar vertrödeln, aber meine Strümpfe würden nicht in für solch einen besonderen Tag denkbar ungeeigneten Gamslederstiefeln an den Füßen kleben.
    Urheberin meines neuen Lebens ist die Personalchefin von Breston & Partners, die Herrscherin des HRM , des »Human Resource Management«, wie man mancherorts sagen würde. Für uns vom TBD – wobei ich nicht »uns« sagen sollte, da ich ja nicht mehr dazugehöre … Für die vom TBD also, dem »Think Bold Department« – den Experten für kühnes Denken –, ist diese Frau einfach nur »die Witch«. Die Hexe. Um 9:02 Uhr hatte ich gerade den Computer hochgefahren, als sie mich in ihr Büro bestellte, ohne sich wie sonst von ihrer salbungsvollen Sekretärin ankündigen zu lassen. Ihre Stimme direkt im Hörer zu vernehmen irritierte mich nicht weiter, weil ich von zwei fetten Tauben abgelenkt war, die sich ein paar Zentimeter vor meiner Nase auf der Fensterbank niedergelassen hatten. Ich stieg also in den zweiten Stock hinauf und klopfte an die Tür des Superluxusbüros, das mit einem Sofa, einem Teppich, einem Ficus benjamini mit auf Hochglanz polierten Blättern, einem runden Sitzungstisch, Regalen mit Ordnern und einem Schreibtisch ausgestattet ist. Geräumig und leer. Kein Blatt Papier liegt herum, kein Notizzettel, kein Flyer, keine Zeitschrift, kein Kosmetiktäschchen, keine Papiertaschentücher und auch sonst nichts von dem, was man an Arbeitsplätzen üblicherweise erwartet. Auf dem Stahl-Kristallglas-Schreibtisch der Witch thront ein Computer der neuesten Generation, in dem Dutzende von Existenzen verwahrt werden. Lediglich eine Fußheizung, von der die Herrscherin über mein Schicksal bis in den fortgeschrittenen Frühling hinein Gebrauch macht, lässt in dieser aseptischen Umgebung etwas von der Zerbrechlichkeit des Menschen erahnen.
    Zaghaft klopfte ich ein zweites Mal an die angelehnte Tür und trat nach einem schrillen »Herein, herein« schließlich ein. Nicht einmal das Hyänengrinsen der Witch versetzte mich in Alarmbereitschaft, da ihr blutleeres Lächeln zur Grundausstattung gehört. Egal, was draußen passiert, Streiks oder Kriege oder Börsencrashs oder Naturkatastrophen, die Dame beschränkt ihre Kommentare auf das absolut Notwendige: unsere Leistung. In ihrem ergonomischen Lederstuhl zurückgelehnt musterte sie mich von oben bis unten und legte die gebotene Pause ein, bevor sie dann wenige Sekunden später ihr Urteil verkündete. Nicht dass sie gesagt hätte: »Sie sind GEFEUERT , Signorina.« Sie näherte sich der Sache vielmehr auf dem Umweg über »die schlimmste Wirtschaftskrise, die die westliche Welt je erfasst hat«, um mich dann schließlich davon in Kenntnis zu setzen, dass die Agentur den Bereich dieser Größenwahnsinnigen vom TBD »stilllegen«, die Presseabteilung verkleinern und ihre Aktivitäten künftig auf Event Management, Digital Marketing und E-Commerce konzentrieren wolle. Mein Profil passe leider nicht mehr zu den Anforderungen der neuen Breston & Partners.
    Den Bereich »stilllegen«.
    Diesen barbarischen Ausdruck hat sie tatsächlich benutzt und so mein Sprachempfinden unwiederruflich verletzt. Ich liebe Wörter
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