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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin
Autoren: Peter Prange
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1
     
    »Glaubst du, dass es diese Nacht geschieht?«
    Emily flüsterte ganz leise, kaum dass sie zu sprechen wagte, als fürchte sie, mit ihren Worten das Wunder zu zerstören, noch bevor es Wirklichkeit wurde. In dem dunklen großen Treibhaus war es so still wie in einer Kirche. Nur ab und zu hörte man, wie ein Tropfen Wasser von einem Blatt in den Teich fiel, während in dem blakenden Licht einer Gaslampe die rings um das Becken wuchernden Pflanzen wie Boten einer anderen Welt aus ihren Schatten traten. Genauso mussten die Nächte im Dschungel sein, dachte Emily, am Amazonas, woher die Riesenpflanze kam, für die ihr Vater das Treibhaus gebaut hatte:
Victoria regia
, die Königin der Seerosen, die schönste und prachtvollste Blume der Welt. Träge trieb sie im warmen Wasser, jedes ihrer Blätter so groß wie eine Insel, und dazwischen, aufgetaucht aus dem schwarzen Teich wie eine Frucht der Unterwelt, die prall gefüllte Knospe, der Emilys ganze Aufmerksamkeit galt. Rund und glänzend barg sie ihr Inneres, wie ein Geheimnis, das sie niemals preisgeben wollte.
    »Vielleicht in dieser Nacht, vielleicht in der nächsten«, erwiderte ihr Vater Joseph Paxton. »Das muss die Natur entscheiden.«
    Emily schmiegte sich an ihn, ohne die große dunkle Kapsel eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ihr Vater hatte ihr ein Wunder versprochen: Hier in Chatsworth, mitten im kalten England, wollte er die Seerose zum Blühen bringen. Das hatte noch kein anderer Gärtner vor ihm geschafft, seit Monaten arbeitete er nur für dieses eine Ziel. Dafür hatte er das Gewächshaus und den Teich gebaut, Heizrohre im Boden verlegt und Gaslampen angebracht, damit die Pflanze, die ein Naturforscher mit einemunaussprechlichen Namen nach Europa gebracht hatte, es so hell und warm hatte wie im tropischen Dschungel und hier, Tausende Meilen vom Amazonas entfernt, ihre ganze Pracht entfaltete. Der Herzog von Devonshire, in dessen Dienst Emilys Vater stand, hatte gesagt, wenn Mr. Paxton das schaffe, sei er ein Zauberer. Doch seit zwei Tagen hatte die Knospe sich nicht mehr gerührt. Die Vorstellung, dass sie sich in dieser Nacht öffnen würde, erschien Emily auf einmal so unwahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass zwischen den Pflanzenblättern ein Krokodil auftauchte.
    »Sollen wir vielleicht beten?«, fragte sie.
    »Das wird nicht nötig sein«, lachte ihr Vater. »Die Natur wird uns helfen, sie ist auf unserer Seite.«
    »Glaubst du? Warum?«
    »Ganz einfach. Die Natur will immer nur eins – leben. In jedem Samenkorn, in jeder Blüte, in jedem Blatt.«
    »Auch in
Victorias
Knospe?«
    »Auch in
Victorias
Knospe.«
    Emily schaute auf die Pflanze, in der angeblich so geheimnisvolle Kräfte wirkten. Dabei stellte sie sich vor, wie sie selber irgendwann einmal den Amazonas entlangfahren würde, um die Heimat der Seerosen zu erkunden, in einem Einbaum, zusammen mit ihrem Vater. Sie würden Helme und Tropenanzüge tragen, wie die Forscher in ihren Naturkundebüchern, und Cora, der weiße Kakadu, den ihre Eltern ihr zum Geburtstag geschenkt hatten, würde auf ihrer Schulter sitzen und ihnen mit krächzender Stimme den Weg weisen, immer tiefer und tiefer hinein in die grüne, undurchdringliche Finsternis.
    »Und was ist«, fragte sie zögernd, »das Leben?«
    »Mehr willst du nicht wissen?«, erwiderte ihr Vater. »Wonach du da fragst, mein Liebling, ist das größte Geheimnis, das es überhaupt gibt. Die Menschen haben Jahrtausende lang vergeblich versucht, es zu lösen.«
    »Dann weißt du es also auch nicht?«, fragte Emily enttäuscht.
    »Doch«, sagte er. »Ich glaube schon. Aber ich weiß nicht, ob du groß genug bist, um es zu verstehen.«
    »Wenn du die Antwort weißt«, protestierte sie, »musst du sie mir sagen! Ich bin bestimmt schon groß genug! Ich bin schon fast elf!«
    Sie machte sich aus seiner Umarmung frei und blickte ihn an. Wie immer, wenn er nachdachte, ließ er seine mächtigen Wangenkoteletten, die noch buschiger waren als seine schwarzen Augenbrauen, durch die Spitzen seiner Finger gleiten.
    »Na, gut«, sagte er endlich, »ich will es versuchen. Aber nur, wenn du mir versprichst, sie keinem anderen zu verraten.«
    »Versprochen!«
    »Vor allem nicht dem Pfarrer. Und auch nicht dem Lehrer.«
    »Ehrenwort!«
    Emily wurde immer neugieriger. Was war das für ein Geheimnis, das man vor dem Pfarrer und dem Lehrer geheimhalten musste? Ihr Vater nahm ihre Hände, und während er ihr in die Augen schaute, sagte er, so ernst und
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