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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume
Autoren: Paola Calvetti
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Polyesterdecke auf dem Tisch in der hintersten Ecke zog sich eine Krümelspur und umschloss einen dunklen Fleck, ein schalkhaftes Muttermal in einem runden, fast lächelnden Gesicht.
    Ich entledigte mich meiner Handtasche, stellte den Pappkarton ab und setzte mich.
    Endlich ein wenig Frieden.
    Ich schloss die Augen und atmete tief durch, doch statt von Heiterkeit durchflutet zu werden, wie meine Yogalehrerin es immer verspricht, verkrampfte sich mein Magen. Hunger konnte das nicht sein, da ich erst vor kurzem gefrühstückt hatte, also öffnete ich die Augen wieder und legte die Stirn ans eiskalte Fenster. Wie Puderzucker rieselte der Schnee auf die frierenden Pflanzen und die sich vorsichtig vorantastenden Gestalten hinab. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund blieb niemand stehen, um die Köpfe der verstümmelten Frauen im Perückengeschäft gegenüber zu bewundern. Selbst von hier waren sie faszinierend … flash … wie damals, als ich meiner kindlichen Neigung zur Grausamkeit nachgab und Barbie, Skipper und dem armen Ken die Köpfe abtrennte, um sie zu einer Art heimischem Horrorkabinett aufzutürmen.
    Um 10:17 Uhr ging es mir ein winziges bisschen besser.
    So schien es zumindest, aber als ich mich übers Geländer beugte und dem Blick eines Kellners in einer schwarzen Schürze begegnete, füllten meine Augen sich wieder mit Tränen. Das war nichts Neues. Obwohl es mir wahnsinnig unangenehm ist, Gefühle zu zeigen, bin ich sehr nah am Wasser gebaut. Der junge Mann mit den Ringellocken hatte kaum die dritte Stufe erreicht, als auch schon der erste Tropfen hervorquoll. Da half auch der Spruch von Banana Yoshimoto nicht, der sich meinem Gedächtnis eingebrannt hatte, seit ich ihn ständig auf meinem Bildschirmschoner lesen musste: »Selbst an den Tagen, an denen dich eine schlechte Nachricht ereilt, kann etwas Schönes passieren; die Welt geht nicht einfach so von einem Moment zum nächsten unter.«
    Â»Liebe Banana«, hätte ich ihr gern gesagt, wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, unter vier Augen mit ihr zu sprechen, »ich weine gerade, weil mich dein Spruch im Moment überhaupt nicht überzeugt. Er ist vielmehr der beste Beweis dafür, dass uns die Literatur nicht immer zu Hilfe eilt. Im Gegenteil, meistens betrügt sie uns, und mit Sicherheit spiegelt sie heute nicht die Wirklichkeit wider.«
    Ich zog meinen Mantel aus und atmete im Stehen noch einmal tief durch, während sich der Kellner diesem Bild des Elends näherte. Ein paar Schritte noch, und er wäre bei mir. Wir wären alleine, er und ich, an diesem schönen, katastrophalen Dezembermorgen. Hätte er in diesem Moment gefragt: »Kann ich Ihnen helfen, geht es Ihnen nicht gut?«, wie man es in solchen Fällen zu tun pflegt, wäre es aus und vorbei gewesen. Keine Ahnung, wie ich mich je wieder hätte fassen sollen. Ich hockte in der Falle, es war nur noch eine Frage von Sekunden. Meine Wangen glühten … Ich wusste nicht, wohin mit meinen Händen, wie immer, wenn ich verlegen war … Als ich meine Wange berührte, stellte ich allerdings fest, dass sie keineswegs heiß war. Seltsam auch das.
    Â»Selbst in den abscheulichsten Momenten sollte man die Würde bewahren«, hätte meine Großmutter gesagt. Da ich ihren stummen Ratschlägen eine unverhältnismäßige Autorität zubillige, hörte ich auf sie, als säße sie auf dem Stuhl, auf den ich meinen Karton gestellt hatte.
    Ich setzte mich wieder und versuchte, die Wirklichkeit zu täuschen, indem ich mich in die zur Ziehharmonika gefalzte Speisekarte mit Bildern von Getränken und exotischen Cocktails versenkte. Malibu & Coke sieben Euro, Tequila Sunrise zwölf Euro, Caipiroska mit Limette acht Euro. Eine Tasse heiße Schokolade kostete drei Euro. Mit Sahne – die auf dem Foto wie Gummi aussah, ähnlich wie das Sushi in den Vitrinen japanischer Restaurants – drei Euro fünfzig.
    Â»Haben Sie gewählt, Signorina?«
    Ich hob den Kopf und strich die Strähne beiseite, die mir wie ein Vorhang ins Gesicht gefallen war. Strahlend weiße Zähne explodierten zu einem Lächeln. Außerdem beherrschte dieser junge Mann den sanften, großzügigen Ton, in dem man eine weinende Unbekannte anspricht, ohne die Sache in die Länge zu ziehen. Vor allem aber erkundigte er sich nicht, ob er helfen könne und ob es mir nicht gutgehe. Ein echter
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