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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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ganz selbstverständlich zu sagen, wir wären nach Paris geflogen.«
    »Das ist eine schöne Geschichte.«
    »Seit jener Nacht bin ich jahrelang mit dem Gedanken eingeschlafen, dass mein Bett mich durch die Welt trüge, jede Nacht woandershin. Das war mein persönliches Märchen.«
    »Ich will dir etwas vorspielen. Ein Lied, das ich sehr mag, es erinnert mich an meine Schwester.«
    Sie holte einen MP 3-Player aus der Tasche, suchte das richtige Stück und reichte mir die Kopfhörer. Ich erkannte es sofort, und das Herz zog sich mir zusammen.
    » As tears go by. «
    Sie nickte und ließ Marianne Faithfulls schöne, herzzerreißende Stimme zu Ende singen.
    Dann sah sie auf die Uhr.
    »Ich muss gehen.«
    Damit hatte ich nicht gerechnet. Die Knie wurden mir weich, und wäre ich aufgestanden, hätte ich mich womöglich nicht auf den Beinen halten können. Ein gnadenloser Gedanke schoss mir durch den Kopf. Ich dachte, dass ich binnen weniger Tage – vielleicht gar weniger Stunden – nichts mehr in der Hand hätte, um zu beweisen, dass diese Begegnung wirklich stattgefunden hatte.
    »Ich … weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist absurd, aber ich finde es schade, entsetzlich schade, dass du gehst.«
    Ich zögerte kurz, dann fügte ich hinzu: »Ich würde dir gern schreiben können oder dich anrufen. Vielleicht wenn du wieder in Italien bist. Ich weiß noch nicht mal, wie du heißt.«
    Ich verstummte, doch sie tat nichts, um die Leere zu füllen. Sie schwieg.
    Sie lächelte. Traurig und kummervoll, wie mir schien. Und schwieg.
    Also zog ich das kleine Notizbuch, das ich immer bei mir trage, aus meiner Jackentasche, riss ein Blatt heraus und schrieb alles auf, womit sie mich ausfindig machen könnte – Telefonnummern, Anschrift, E-Mail-Adresse –, wenn sie denn wollte.
    Sie nahm den Zettel und steckte ihn in die Tasche. Ein paar Sekunden saßen wir noch da und sahen uns an. Wir wussten beide, dass das, was wir in diesen Stunden geteilt hatten, gleich im Nichts verschwinden würde.
    »Also dann, ciao. Gute Reise«, sagte sie. Und gleich darauf, ungehalten: »O Gott, was für ein Schwachsinn. Alles. Du machst dir keine Vorstellung. Ciao.«
    Sie drehte sich um und ging langsam davon. Ich sah ihr nach.
    Plötzlich machte sie kehrt und kam zurück. Sie holte das rote Buch aus der Tasche und gab es mir.
    »Behalte du es.«
    Ich nahm es, und sie beugte sich zu mir und küsste mich auf die Wange.
    »Du riechst übrigens sehr gut. Und ich heiße Valeria.«
    Das waren ihre letzten Worte. Ohne meine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und ging weg. Diesmal eilig. Sie durchquerte die ersten Warteschlangen, die sich an den Gates bildeten, und war nach wenigen Sekunden verschwunden.
    Zwei Tage später, als ich im Büro saß, aber noch nicht mit der Arbeit begonnen hatte, sah ich sie in der Zeitung. Ich erkannte sie sofort, auch wenn das Foto ein paar Jahre alt war.
    Es war ein aufsehenerregender Fall gewesen, und beim Lesen konnte ich mich gut daran erinnern.
    Valeria T. war Parfümeurin einer berühmten Pariser Maison und hatte einen Mann umgebracht. Den Mann ihrer Zwillingsschwester.
    Jahrelang hatte der Kerl seiner Frau das Leben zur Hölle gemacht, sie physisch und seelisch missbraucht und gequält. Sie hatte ihn nie anzeigen wollen und nicht einmal den Mut gefunden, ihn zu verlassen, obgleich Valeria mit allen Mitten versucht hatte, sie dazu zu bewegen.
    Bei manchen Bindungen gibt es nur einen Ausweg.
    Eines Morgens rief die Schwester im Büro an und sagte, dass sie nicht kommen würde. Dann machte sie das Bett, räumte die Küche auf, ging auf den Balkon und stieg über das Geländer. Ein Zeuge berichtete, sekundenlang hätte die Ärmste ans Geländer geklammert auf der schmalen Zementkante über dem Abgrund gestanden. Dann hätte sie sich fallen lassen.
    Noch ehe die Leiche fortgebracht worden war, traf Valeria ein, und zwei Stunden später ging sie mit einer Pistole in der Tasche zu dem Witwer. Legaler Waffenbesitz, ein väterliches Erbstück. Sie feuerte nur einen einzigen Schuss auf ihn ab. Mitten ins Herz, sprichwörtlich. Dann stellte sie sich der Polizei.
    Der Staatsanwalt plädierte auf Mord und somit auf lebenslänglich, doch Valerias Anwalt beherrschte sein Handwerk. Von der Provokation bis zu ganz allgemeinen mildernden Umständen machte er alles geltend, was zur Strafmilderung führen könnte. Er brachte die gesamte Vorgeschichte in die Verhandlung ein: die physischen und psychischen Misshandlungen, die
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