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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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und einem großen Radio unter dem Arm ging an uns vorbei.
    We destroy the love, it’s our way
We never listen enough
Never face the truth
Then like a passing song
Love is here and then it’s gone.
    Der Junge zog nicht nur die Musik hinter sich her, sondern auch einen rauen, schweren, erdigen Geruch.
    Die Melodie entfernte sich, verklang und verschwand. Der Geruch brauchte länger. Die ganze Szene war plötzlich mit einer surrealen Spannung aufgeladen.
    »Der hat merkwürdig gerochen, oder?«
    Sie sah in die Richtung, in die der Junge verschwunden war, und dann wieder zu mir.
    »Wieso sagst du das?« Sie hatte mich geduzt, und in ihrer Stimme schwang ein aggressiver Unterton mit. Als käme die Anspielung auf den Geruch des Jungen einer Regelverletzung oder gar einem feindseligen Akt gleich. Ich war perplex und hatte das Gefühl, ich müsste mich verteidigen.
    »Nur so. Ich meine, ich habe nur angemerkt, dass der Junge merkwürdig gerochen hat. Ist was nicht in Ordnung?«
    Sie musterte mich, als könnte sich hinter meinen Worten ein doppelter Sinn verbergen; als könnte ich ein Spiel mit ihr treiben. Doch dann kam sie offenbar zu dem Schluss, dass dem nicht so war.
    »Nein, es ist nur … Manchmal missverstehe ich etwas. Entschuldige. Es passiert nicht oft, dass jemand auf Gerüche achtet. Und, ja, der Junge roch wirklich merkwürdig.«
    Ich war froh, dass sie wieder normal war.
    »Wenn ich jemandem von dieser Begegnung erzählen sollte, wäre ich nicht in der Lage, den Geruch dieses Jungen zu beschreiben.«
    »Du könntest sagen: Rau, schwer, erdig. Mit einer strohigen Note.«
    Jetzt musterte ich sie mit einem fragenden Blick, den sie leicht belustigt erwiderte.
    »Wir haben keine Worte, um Gerüche zu benennen«, fuhr sie fort. »Ist dir das schon mal aufgefallen?«
    »Wie meinst du das?«
    »Wir können einen Geruch nicht so beschreiben, wie wir das mit einem Gegenstand tun. Wenn du diese Jacke beschreiben willst, könntest du sagen, sie ist blau, kurz, ein bisschen kratzig. Wir haben zahllose Wörter für Formen, Farben, Beschaffenheiten, Größen. Wir sagen, ein Gegenstand ist rund, eckig, groß, klein, rot, grün, blau, hart, weich, scharf. Für Töne und Geräusche haben wir sogar lautmalerische Wörter, präziser geht’s nicht. Doch für Gerüche müssen wir Behelfswörter nehmen und auf Analogien zurückgreifen. Auf eine kleine Anzahl von Geruchsdefinitionen, die keine eigene Bezeichnung liefern, sondern lediglich auf vertraute Geruchswelten anspielen. Blumen, Sauberkeit, frisch gewaschene Wäsche, Vanille. Neue Bücher. Gemähtes Gras. Erde kurz vorm Regen. Oder auch: Kacke, Fisch, faule Eier, ungewaschene Achseln, Füße.«
    Sie hielt inne und sah mich an.
    »Ist es dir unangenehm, dass ich von schlechten Gerüchen rede?«
    Ich wollte schon Nein sagen, doch weshalb sollte ich lügen?
    »Ein bisschen.«
    »Eben. Jeder stört sich an Gerüchen, vor allem an schlechten. Das ist das Ergebnis eines kulturellen Prozesses. Wir neigen dazu, uns gegen schlechte Gerüche zu wehren, weil sie am primitivsten, animalischsten Teil von uns rühren. Überleg mal: Schon davon zu reden gilt als peinlich und vulgär.«
    »Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
    »Irgendjemand hat gesagt, die Dinge existieren nicht, wenn wir keine Worte haben, sie zu benennen. Zahllose Gerüche und Düfte existieren also nicht, nur weil wir nicht wissen, wie wir sie benennen sollen.«
    »Vor ein paar Jahren habe ich einen Roman gelesen, in dem es um den Geruch der Angst ging. Das hat mich beeindruckt, weil ich diesen Geruch gut kenne, aber nie daran gedacht habe, ihm einen Namen zu geben.«
    »Und wieso kennst du ihn?«
    »Durch meine Arbeit.«
    »Was arbeitest du denn?«
    »Was würdest du sagen?«
    »Vielleicht bist du Arzt. Hätte ich zwar nicht gedacht, aber jetzt, wo du den Geruch der Angst erwähnst …«
    »Ich bin Polizeibeamter. Bereitschaftspolizei.«
    »Polizist?« Echte Verblüffung in ihrem Gesicht.
    »Du staunst, dass ein Bulle von Büchern redet und den Konjunktiv beherrscht.«
    »Nein, also, ja. Ich meine … Ja, ich weiß, dass das ein blödes Vorurteil ist, aber … Na ja, entschuldige.«
    »Ich bin das schwarze Schaf der Familie. Meine Eltern waren Professoren. Intellektuelle, Kommunisten, Aktivisten. Ein Polizistensohn war das Letzte, was sie sich erhofft hatten.«
    »Und wieso bist du Polizist geworden?«
    »Willst du die offizielle Version oder die Wahrheit?«
    Zum ersten Mal seit Beginn unserer Unterhaltung
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