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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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lächelte sie. Sie hatte schöne, weiße, gefährliche Zähne. Sie strahlte Natürlichkeit aus, etwas Instinktives, Lebendiges, das ich bei anderen stets neidvoll wahrnahm. Ich selbst hatte es nie gehabt.
    »Beides.«
    »Die offizielle Version lautet, dass ich studiert habe, um Richter zu werden. Um einen Einblick in die Praxis zu bekommen, bewarb ich mich bei der Polizei. Ich wurde genommen, fing an zu arbeiten und hängte bedauerlicherweise das Studium an den Nagel.«
    »Und die Wahrheit?«
    »Ich bewarb mich um eine Stelle bei der Polizei, weil ich Polizist werden wollte, und basta. Alles andere ist Quatsch. Bis heute Nacht habe ich es nie jemandem erzählt.«
    »Wieso wolltest du Polizist werden?«
    »Weil ich dachte, es macht die Dinge einfacher.«
    »Was meinst du damit?«
    »Ich dachte, die Dinge würden dadurch eindeutiger. Gut und Böse, Recht und Unrecht und so weiter. Natürlich funktioniert es so nicht, und man merkt schnell: Wenn man lang genug in einen Abgrund blickt, blickt der Abgrund zurück.«
    »Nietzsche.«
    »Das Zitat hätte ich natürlich gleich aufgezeigt.«
    »Natürlich.« Wieder dieses sinnliche, gefährliche Lächeln.
    »Du glaubst doch nicht etwa, ich wollte mir diesen Satz aneignen?«
    »Nein, nein. Das wäre dir bestimmt nicht im Traum eingefallen. Du bist schließlich Ordnungshüter.«
    Ich merkte, dass ich mit dieser Frau gern gelacht hätte. Nur einmal hatte ich so eine Frau getroffen, vor vielen Jahren. Es war nicht gut ausgegangen.
    »Was braucht es, um ein guter Polizist zu sein?«
    »Die Gabe, die geheimen Laster der Menschen zu erahnen. Das können nur wenige.«
    »Und was noch?«
    »Ein bisschen gesunden Menschenverstand, die Fähigkeit, Dinge zu hinterfragen, und Sinn für Humor.«
    »Sinn für Humor?«
    »Genau.«
    »Verstehe ich nicht.«
    »Wenn man sich in diesem Job zu ernst nimmt, hat man verloren. Man kann unglaublichen Schaden anrichten.«
    »Du bist ein seltsamer Polizist.«
    Ich zuckte die Achseln.
    »Ich hatte einen Großvater, den ich sehr liebte. Er meinte, die wichtigste Eigenschaft eines Menschen sei der Sinn für Humor. Er sagte etwas Ähnliches wie du: Wenn man Sinn für Humor habe – nicht Ironie oder Sarkasmus –, nehme man sich nicht ernst. Und dann könne man weder böse noch beschränkt oder vulgär sein. Er meinte, der Sinn für Humor sei die beste Art, in schwierigen Momenten seine Würde zu bewahren, er sei eine ethische Tugend.«
    Das ist sehr schön, dachte ich. Wenn man dergleichen hört oder liest, hat man das Gefühl, man habe es immer gewusst, aber nie die richtigen Worte dafür gefunden.
    »Er meinte, Gott habe Sinn für Humor, und ein guter Witz, mit dem man jemanden zum Lachen bringt, sei wie ein Gebet.«
    Ich merkte, dass sie feuchte Augen hatte; es stand mir nicht an, sie in dem Moment anzusehen. Dann nahm mein Gedankenfluss plötzlich eine andere Wendung.
    »Jetzt ist mir doch noch etwas anderes von meiner Mutter eingefallen. Etwas, das ich total vergessen hatte.«
    Sie sah mich wortlos an. Wartete, dass ich erzählte.
    »Als ich zum ersten Mal ins Kino gegangen bin – ich war vielleicht fünf –, sah ich einen Zeichentrickfilm von einem Kind in einem fliegenden Bett, das es jede Nacht an einen anderen unglaublichen Ort der Welt brachte. Als ich nach Hause kam, fragte ich meine Mutter, ob mein Bett sich auch verwandeln und mich von einer Stadt zur anderen durch die Welt tragen könnte. Sie sagte, aber sicher, das könnte es, und als sie mir an jenem Abend die Bettdecke feststeckte, sagte sie, ich solle genau aufpassen, denn in dem Moment, in dem ich einschliefe, würde sich das Bett in eine Flugmaschine verwandeln und mich bringen, wohin ich wollte. Ich müsse sehr gut aufpassen, denn der Zauber funktioniere nur, wenn ich genau merkte, wann ich einschliefe.«
    »Und dann?«
    »Als meine Mutter mich am nächsten Morgen fragte, wie es war, erzählte ich ihr alles, das heißt, ich schilderte ihr meine schönsten Fantasien. Ich sagte, ich hätte genau gemerkt, wann ich eingeschlafen sei und wie das Bett sich verwandelt habe – es konnte sogar sprechen –, genau wie im Film. Dann wären wir zusammen durch die Nacht gereist – ich lag zum Glück sicher unter meiner Decke –, und ich hätte Paris gesehen.«
    »Paris?«
    »Ja.«
    »Ich habe eine ganze Weile dort gelebt, vor langer Zeit. Wieso ausgerechnet Paris?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht wegen des Eiffelturms, oder weil die Stadt bei uns Gesprächsthema war. Keine Ahnung, ich fand es
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