Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
Vom Netzwerk:
medizinischen Gutachten, die durch die häusliche Gewalt verschlimmerte Depression. Der Prozess zog sich hin, und die Angeklagte wurde wegen Fristablauf aus der Haft entlassen. Als das Urteil rechtskräftig wurde und die Carabinieri bei Valeria T. zur Verhaftung vorstellig wurden, mussten sie feststellen, dass die Wohnung leer und die Verurteilte unauffindbar war.
    Es war genau an jenem Morgen gewesen.
    Valeria musste sich kurz vor dem Gerichtsurteil aus dem Staub gemacht haben, ganz offensichtlich mit falschen Papieren.
    Ich habe mich oft gefragt, welcher Name wohl in diesen Papieren stand.
    Mir hatte sie ihren richtigen Namen gesagt.
    Valeria.
    Natürlich hätte ich über diese Begegnung Bericht erstatten müssen. Der zuständigen Stelle, wie es bei uns heißt.
    Hätte ich. Habe ich aber nicht.
    Stattdessen habe ich ein wenig in eigener Sache ermittelt. Ich habe mir die Abflugliste von Amsterdam an dem Morgen vorgenommen und nachgesehen, welche Ziele mit Ländern übereinstimmten, die keinen Auslieferungsvertrag mit Italien haben. Ich bin Bulle, also bin ich genauso vorgegangen, als sollte ich die Flüchtige Valeria T. aufspüren, und hatte schließlich eine Idee, wo sie sein könnte.
    Aber das war natürlich nur eine Vermutung, mit der ich monatelang gespielt habe. Ich habe mir vorgestellt, was sie gerade machte, was das Schicksal für sie bereithielt, wem sie begegnen würde. Solche Dinge.
    Es war eine Vermutung, bis vor wenigen Tagen, als ich den Briefkasten öffnete und eine Postkarte vorfand. Darauf war das Foto eines Marktstandes, der von Gewürzen in allen Farben barst. Rot, orange, leuchtend gelb, ocker, violett. Man meinte, ihre vielfältigen Düfte riechen und sich in ihnen verlieren zu können.
    Auf der Rückseite war der Poststempel besagten Landes und auf der Fläche für den Text nur ein Satz.
    Es gibt keine Weisheit.
    Plötzlich war ich ganz beschwingt; mich überkam ein Gefühl von Frühling und Ferien, wie ich es schon lange nicht mehr empfunden habe.
    Ich habe die Postkarte in die Jackentasche gesteckt und beschlossen, zu Fuß ins Büro zu gehen. Oder an diesem Morgen vielleicht gar nicht hinzugehen.
    Im Gehen bewegte ich die Lippen.
    Es gibt keine Weisheit
Und kein Altern
Und vielleicht
Auch keinen Tod.

Heiligabend

Es war Heiligabend in der riesigen Bahnhofshalle der Stazione Termini.
    Maresciallo Bovio, trüber Laune, die Hände in den Taschen seines dicken Dienstmantels vergraben, schob sich durch einen traurigen Gegenstrom von Männern und Frauen. Kleine, dunkle Gestalten, grüppchenweise; verlorene Blicke und ein paar Lacher, überlaut, um sich Mut zu machen; Obdachlosengesichter, alte, über Gepäckwagen gekrümmte Frauen, die ihren unförmigen Haufen von Habseligkeiten vor sich herschoben. Gleichgültig oder anteilslos gegenüber dem, was um sie herum passiert. Normale Gestalten, die am Weihnachtsabend aus Versehen in der Bahnhofskälte statt in der heimischen Wärme gelandet waren.
    Der Maresciallo lehnte sich gegen die verrammelte Tür der Touristeninformation, sah auf die Uhr – neunzehn Uhr dreißig –, zog eine MS aus dem zerknautschten, halbleeren Zigarettenpäckchen, zündete sie an und nahm einen kräftigen Zug.
    Vor vielen Jahren, erinnerte er sich, hatte er in der Weihnachtsnacht Dienst gehabt, und ein Reisender war neben dem Gleis, von dem der letzte Nahverkehrszug nach Nettuno ging, niedergestochen worden.
    Die ganze Nacht über waren die armen Teufel, die im Bahnhof lebten, weil sie sonst keine Bleibe hatten, vernommen worden. Der Mörder war ein illegaler Taxifahrer gewesen, ein leicht verwachsenes Männchen, dessen Name dem Maresciallo entfallen war.
    Doch an das Gesicht erinnerte er sich gut: der kranke Blick, der vor haltlosem Heulen bebende Unterkiefer, der animalische Schluchzer nach der letzten Ohrfeige. Das erste graue Tageslicht des Weihnachtsmorgens hatte sich mit dem kränklich gelben Schein der Glühbirnen, dem sauren Geruch nach Mensch und Angst gemischt, der nach den nächtlichen Verhören in den Büros stand. Raubmord für den verwachsenen Taxifahrer. Lebenslänglich. Nach dem Prozess hatte Bovio nie wieder etwas von ihm gehört.
    Er zog ein letztes Mal an der bis zum Filter heruntergerauchten Zigarette und ließ sie zu Boden fallen.
    Zu Hause waren jetzt bestimmt schon alle zum üppigen Weihnachtsessen – diese Tradition hielt sich hartnäckig bei den süditalienischen Familien – und zum Geschenkeaustausch nach den Weihnachtsköstlichkeiten versammelt.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher