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Tod in Lissabon

Tod in Lissabon

Titel: Tod in Lissabon
Autoren: Robert Wilson
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    S ie lag auf einer Kruste aus Kiefernnadeln, blickte durch das Geäst in die Sonne jenseits der offenen Zapfen, und die Zweige nickten. Ja, ja, ja. Sie dachte an einen anderen Ort und eine andere Zeit, als sie auch den Duft von Kiefern im Kopf gehabt hatte und beißenden Harzgeruch in der Nase. Sie hatte Sand unter den Füßen gehabt, und das Meer war irgendwo in der Nähe gewesen, nicht weit entfernt von der Muschel, die sie an ihr Ohr gehalten hatte, um dem Rauschen der brechenden Wellen zu lauschen. Sie tat etwas, das sie bereits vor Jahren gelernt hatte. Sie vergaß, wischte blank, schrieb kurze Abschnitte ihrer Lebensgeschichte um. Sie malte ein anderes Bild der letzten halben Stunde, von dem Moment an, als sie sich umgedreht und zu der Frage »Kannst du mir sagen, wie …?« gelächelt hatte. Es war nicht leicht, dieses Vergessen. Kaum hatte sie etwas vergessen und mit eigener Hand umgeschrieben, schon kam wieder etwas Neues, das umgearbeitet werden musste. All das führte dazu, dass sie ungern frei in ihrem Kopf umherschlenderte, dass sie zu vergessen begann, wer sie war. Doch dieses Mal hatte sie, sobald sie den hässlichen Gedanken gedacht hatte, gewusst, dass es besser für sie war, in der Gegenwart zu leben und sich von dort aus moment- und millimeterweise vorwärts zu bewegen. Die Kiefernnadeln fossilisieren auf der Rückseite meiner Oberschenkel. Weiter kam sie im Moment nicht. Eine leichte Brise erinnerte sie daran, dass sie ihren Slip verloren hatte. Ihre Brust schmerzte in dem engen BH. Ein Gedanke nagte an ihr. Er wird zurückkommen. Er hat es in meinem Gesicht gesehen. Er hat mir angesehen, dass ich ihn kenne. Und sie kannte ihn, ohne zu wissen, woher oder wie er hieß. Sie rollte sich auf die Seite und musste über ein Geräusch lächeln, das klang wie Milch, die auf Cornflakes gegossen wird. Dann bockte sie sich auf die Knie und griff mit ihren stumpfen Fingerspitzen nach der rauen Borke der Kiefer. Ihre Nägel waren bis aufs Bett abgekaut, an einem klebte eine dünne getrocknete Blutspur. Sie strich sich die Nadeln aus ihrem blonden Haar, als sie die schweren Schritte hörte. Stiefel auf gefrorenem Gras? Nein. Beweg dich. Aber sie brachte nicht die nötige Panik auf, um zu fliehen. Diese Panik hatte sie noch nie aufbringen können. Vor ihrem inneren Auge blitzten Bilder auf wie von einem alten Filmstreifen, und sie sah ein kleines blondes Mädchen, das weinend auf der Treppe saß und sich in die Hose machte, weil er sie gejagt hatte, obwohl sie es nicht ertragen konnte. Die Hetze, diese Böe schrecklicher Kraft, der Wind, der die Treppe hinauffegte und durch die Ritze ihrer Tür pfiff. Zuschlagende Türen irgendwo im Haus. Der Aufprall einer Wassermelone auf Kacheln. Geplatzte Haut, rosafarbenes Fleisch. Ihr blondes Haar verfärbte sich rot. Der Riss in ihrem Schädel klaffte auf. Sie schürfte sich an der Borke die Stirn auf. Ihre großen blauen Augen blickten in die schwarze Schlucht.

ERSTER
 TEIL

1
    15. Februar 1941,
    SS-Kaserne, Unter den Eichen, Berlin-Lichterfelde
     
    Es war selbst für die Jahreszeit früh dunkel geworden. Wegen der tief und schwer wie Zeppeline hängenden Schneewolken hatten die Ordonnanzen früher als sonst begonnen, das Kasino zu verdunkeln. Das wäre nicht nötig gewesen. Reine Routine. Bei diesem Wetter waren bestimmt keine Bomber unterwegs. Seit Weihnachten hatte es keine Luftangriffe mehr gegeben.
    Ein SS-Kellner in weißer Livree und schwarzer Hose stellte ein Tablett mit Tee vor dem Zivilisten ab, der nicht von der Zeitung aufblickte, die er nicht las. Der Kellner wartete noch eine Weile im Hintergrund und ging dann mit den anderen Ordonnanzen. Draußen dämpfte der Schnee alle Geräusche der Vorstadt, füllte Krater, verputzte Ruinen, glättete schlammige Schlaglöcher und färbte die schwarzen Straßen gleichförmig weiß.
    Der Zivilist goss sich eine Tasse Tee ein, zückte ein silbernes Etui und entnahm eine Zigarette mit schwarzem türkischem Tabak. Er klopfte mit dem filterlosen Ende auf den Deckel des Etuis mit der gotisch verschlungenen Gravur KF und steckte die Zigarette in den Mund. Mit einem silbernen Feuerzeug mit den Initialen EB, Beute eines kleinen und einstweiligen Diebstahls, zündete er sie an und nahm seine Tasse.
    Tee, dachte er. Was war nur mit dem guten schwarzen Kaffee passiert?
    Die Zigarette knisterte, als er gierig daran zog, um das Prickeln in seinen Adern zu spüren. Er strich zwei weiße Ascheflöckchen von
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