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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Duft nach hausgemachten Süßigkeiten, leuchtende Farben, heimelige Wärme.
    Der Zeitungshändler neben der Touristeninformation machte sich als Letzter daran zu schließen. Mit der unterschwelligen Hast eines Menschen, der fürchtet, bei etwas außen vor zu bleiben, stapelte er die Zeitungen und Zeitschriften in ungeordneten Haufen in seinen Kiosk.
    Eine Alte mit einem Gepäckwagen näherte sich. Eine Obdachlose mit ihren dreckstarrenden Tüten, ihren zerschlissenen, vollgestopften Beuteln. Doch irgendetwas – eine seltsame Würde, die sie ausstrahlte – unterschied sie von den lumpigen Bettelweibern, die wie traurige Gespenster durch den Bahnhof strichen und sich in den ausrangierten Zügen herumtrieben. Sie trug eine dicke Herrenstrickjacke und einen langen, kunterbunten Rock; das Haar wurde von einem sorgfältig geknoteten Taschentuch zusammengehalten.
    Aufmerksam studierte sie die Zeitschriften, die der Zeitungshändler noch nicht weggeräumt hatte. Vorsichtig blätterte sie eine durch, als suche sie einen bestimmten Artikel.
    Dann wandte sie sich an den Kioskbesitzer. Sie hielt einen Tausend-Lire-Schein in der Hand. »Die ›Unità‹, bitte«, sagte sie.
    Der Mann sah auf und zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete.
    »Heute kostet die ›Unità‹ zweitausend Lire. Es ist Sonntag, da ist die Beilage mit drin.« Es klang entschuldigend.
    Langsam zog die Alte die Hand mit dem Geldschein zurück und blieb vor dem Kiosk stehen. Sie stand noch immer reglos, als Bovios große Hand sich aus dem dunklen Stoff des Mantels löste und ihr tausend Lire zwischen die Finger schob.
    Langsam hob die Alte den Blick zum Gesicht des Maresciallo.
    »Was für ein anständiger, freundlicher Mensch.« Ihre Stimme war dünn, aber fest. »Ich hoffe, alle Ihre Wünsche werden wahr.«
    Dann drehte sie sich um, hielt dem Zeitungsverkäufer wie selbstverständlich die zweitausend Lire hin, griff sich ihre Zeitung samt Beilage und zog mit ihrem Wagen gemächlich davon.
    Er sah ihr nach. Er schämte sich ein wenig wegen des Segenswunsches, der in keinem Verhältnis zu seiner instinktiven Geste stand, die ihm jetzt erbärmlich erschien. Nachdenklich sah er zu, wie sie sich in einen entlegenen Winkel der Halle zurückzog.
    Dann zog er zehntausend Lire aus seinem Portemonnaie, umklammerte sie fest und vergrub die Faust in der Tasche. Er würde zu der Alten gehen, ihr das Geld in die Hand drücken und sich, ehe jemand ihn sähe, schnell wieder davonmachen.
    Seltsam befangen setzte er sich in Bewegung.
    Unterdessen hatte die Alte einen kleinen Besen hervorgeholt und angefangen, ihre Ecke zu fegen. Ringsherum an den Wänden, unter einem Gerüst und gegen die Schaukästen der Fahrpläne gelehnt bereiteten sich die anderen Obdachlosen auf die Weihnachtsnacht vor.
    Ein paar schliefen schon, zusammengerollt in Zeitungspapier, in Unterschlupfe aus Pappe gekauert, die Lider geschlossen, ohne zu wissen, was der nächste Tag bringen würde. Andere waren noch wach, starrten ins Leere oder putzten sich wie alte, müde Katzen. Einer hatte die Hosen aufgekrempelt; seine blau gefleckten Schienbeine waren mit grindigen Stellen übersät, an denen er minutiös herumpulte, systematisch und konzentriert, die Augen von irgendeiner grausigen Krankheit rot wie die eines streunenden Köters.
    Jetzt war er nur noch wenige Meter von der Alten entfernt. Sie wandte ihm den Rücken zu und fegte. Ganz zufrieden, als ginge sie in aller Seelenruhe ihrer Hausarbeit nach. Bovio wollte sie gerade ansprechen, als ihn jähe Wehmut und die verschwommene Erinnerung an ein fernes Weihnachten durchfuhr. Flure, Lichter, verlorene Zimmer. Aufgeregte Kinderstimmen, herzzerreißend im Sog der Vergangenheit.
    Absurderweise ging ihm auf, dass diese Erinnerung nicht die seine war. Und absurderweise dachte er, dass er sie der Alten zurückgeben müsse.
    Er machte noch ein paar Schritte, taumelte fast, mit summendem Schädel, die Hand um die zehntausend Lire gekrampft.
    »Maresciallo.«
    Die Stimme des jungen Carabiniere klirrte in seinen Ohren wie ein Stein, der in ein Fenster einschlägt. Mit ertappter Miene, so schien ihm, fuhr der Maresciallo herum. Er zog die Hand aus der Tasche, als wollte er ein Indiz vertuschen, und setzte sich hastig in Bewegung.
    »Was gibt’s?«, erklang seine Stimme, allzu laut und aufgesetzt.
    Er blickte nicht zurück.

Interview
mit Tex Willer

Die Titelmelodie aus Für eine Handvoll Dollar erklingt; auf der Leinwand erscheinen Bilder aus den Comics,
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