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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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versuchst zu schreien, bring ich dich um, verstanden?«
    »Was wollen Sie von mir? Vielleicht haben Sie sich in der Person geirrt.«
    »Ich habe mich kein bisschen geirrt. Und jetzt hör gut zu. Ich werde dir ein paar Fragen stellen, und du antwortest und siehst zu, dass du keinen Scheiß erzählst. Wenn du mich anlügst, bring ich dich um, ist das klar?«
    Er sagte nichts. In seinem Gesicht war nichts als Angst und Unglaube. Ein Unglaube, den man unmöglich spielen konnte, dachte ich in dem Moment verunsichert, zwang mich aber weiterzumachen. Also hielt ich ihm die Pistole ins Gesicht und legte den Daumen an den Hahn.
    »Jetzt will ich genau wissen, was du mit Natalia gemacht hast. Wenn du mir Scheiße erzählst, schieß ich dir in den Kopf.«
    »Was ich mit Natalia gemacht habe?«
    Es lief nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte.
    Zwar hatte ich nicht sofort mit einem Geständnis gerechnet, aber ich war überzeugt gewesen, dass Blick und Mimik seine Schuld sofort verraten hätten. Ich hatte gewusst, dass es schwer werden würde, ein Geständnis zu bekommen, doch mit solch absoluter Verblüffung hatte ich nicht gerechnet.
    Ich glaube, es war dieser Gesichtsausdruck, der mich wieder in Kontakt mit der Wirklichkeit brachte.
    Und ich bekam Panik. Um mir Mut zu machen und weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, gab ich ihm noch eine Ohrfeige.
    »Was hast du mit ihr gemacht, du Stück Scheiße?« Ich hörte die Verunsicherung in meiner Stimme. Er wohl auch.
    »Ich bitte Sie, machen Sie keine Dummheiten. Sie sind über Natalias Missbildung nicht recht im Bilde. Kein Arzt hätte sie retten können.«
    Die Missbildung?
    »Was für eine Missbildung?«
    Er antwortete hastig, als müsste er die Gelegenheit nutzen und meinem Wahnsinn und den Ohrfeigen zuvorkommen.
    »Natalia litt an einer Hirngefäßmissbildung. Ein schwerer angeborener Defekt. Vor zwei Jahren hatte ich sie operiert, doch bei dieser Krankheit bedeutet das keine Sicherheit. Dieser Unfall hätte ihr jederzeit oder auch nie passieren können. Sie wusste, dass sie auf Messers Schneide stand. Niemand kann sagen, wie und warum es passiert ist. Den wirklichen Grund für die Hämorrhagie werden wir nie erfahren. Stress, Angst, plötzliche Freude.«
    Plötzliche Freude. Mir gefror das Blut, als ich an die E-Mail dachte, in der ich ihr eine Veröffentlichung angeboten hatte.
    »Sie lebte mit dieser Zeitbombe in sich. Sie wusste es. Und außerdem«, fügte er hinzu, als wäre ihm diese Einsicht überraschend gekommen, »tickt in uns allen eine Uhr. Nur funktioniert sie bei jedem anders.«
    Ich ließ meine Arme sinken, die bleischwer geworden waren. Ich erwachte aus einem Traum. Mit den Worten des Arztes hatte die Wirklichkeit wieder Oberhand über die Fantasiewelt gewonnen, die mich bis zu diesem Moment in ihren Fängen gehabt hatte. Ich weiß nicht, was von beidem brutaler und grausamer war.
    »Als sie den Anfall hatte und mich anrief, war sie gerade unterwegs. Ich rief einen Krankenwagen und bin sofort hin, doch als wir ankamen, war es schon zu spät. Man konnte nichts mehr tun.«
    Eine Ewigkeit saßen wir einander schweigend gegenüber. Dann fand ich meine Stimme wieder.
    »Ich … Ich … Verzeihen Sie. Ich weiß nicht, was mich geritten hat, ich war total neben mir. Jetzt gehen wir zur Notaufnahme und dann zu den Carabinieri, Sie zeigen mich an, und ich gestehe alles. Ich weiß nicht, was mich geritten hat.«
    Kapitulierend hielt ich ihm die Pistole hin. Behutsam schob er sie beiseite.
    »Vorsicht, sie könnte losgehen.«
    »Sie ist eine Attrappe, ein Spielzeug.«
    Er riss die Augen auf und wollte etwas sagen. Dann rieb er sich die Gesichtshälfte, auf die ich ihn mehrmals geohrfeigt hatte. Mit einem leichten Kopfschütteln sah er mich an und zuckte matt mit den Schultern.
    »Vergessen Sie die Carabinieri und gehen Sie nach Hause. Natalia fehlt mir auch sehr. Ich kannte sie seit ihrer Kindheit, sie war ein außergewöhnlicher Mensch, in jeder Hinsicht. Ich weiß, es klingt banal, aber für mich war sie wie eine Tochter.«
    Er verstummte, legte mir die Hand auf den Arm und drückte ihn unverdient verständnisvoll. Dann tastete er nach dem Türgriff, öffnete den Wagen und verschwand.
    Ich weiß nicht, wie lange ich ziellos durch die unbekannten Straßen kurvte, als hätte ich besonders starkes Gras geraucht. Ich konnte meinen Gedanken nicht folgen. Wenn sie auftauchten, versuchte ich sie festzuhalten, in Worte zu fassen, doch sie entwischten mir jedes Mal an
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