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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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es gab einige ein- und ausgehende Telefonate mit einem Mobiltelefon, das auf den Arzt dieser Praxis zugelassen war.
    Der letzte Anruf, den Natalia an ihrem Todestag getätigt hatte, ging an dieses Handy.
    Ich wurde wahnsinnig. Alles fügte sich, alles passte zusammen, alles ergab einen Sinn. Einen grauenvollen, zwingenden, unumgänglichen Sinn.
    Ich verließ Bernardis Büro in der festen Absicht, zu den Carabinieri zu gehen und alles zu erzählen.
    Es hielt nicht lange vor. Was hätte ich den Carabinieri erzählen können? Dass ich durch die Seiten eines Romans und die illegale Beschaffung der Anruflisten eines Mobiltelefons einen Mord aufgedeckt hatte? Ich war mir ganz sicher, kurz vor einer entsetzlichen Wahrheit zu stehen, und zugleich hatte ich keine Ahnung, um was für eine Wahrheit es sich handelte.
    Also war der Gedanke naheliegend, dass ich die Sache alleine zu Ende bringen musste, genauso wie ich sie begonnen hatte. Ich dachte wortwörtlich so, doch die Theatralik meiner Wortwahl entging mir in dem Moment.
    Ich musste diesen Arzt aufsuchen und ihn zu einem Geständnis zwingen. Erst dann könnte ich mit einem Schuldigen und einer schlüssigen Geschichte zu den Carabinieri oder der Polizei gehen.
    Ich kaufte ein Aufnahmegerät mit hochempfindlichem Mikro. Ich besorgte mir eine Spielzeugpistole, eine perfekte Attrappe einer 9-mm-Halbautomatik. Ich mietete einen Lieferwagen, machte die Praxis des Arztes ausfindig, und am Nachmittag des darauffolgenden Tages bezog ich Posten auf der anderen Straßenseite.
    Um zu tun, was ich tun musste.
    Seltsam, wie klar und effizient das Gehirn in gewissen Momenten des Wahnsinns ist.
    Um sicher zu sein, den richtigen Mann im Visier zu haben, versuchte ich die Praxis anzurufen. Bei den ersten Anrufen meldete sich niemand. Doch dann, gegen vier, eine Frauenstimme.
    »Arztpraxis, guten Abend.«
    »Guten Abend, hier ist Anwalt Lorusso« – den Namen hatte ich auf die Schnelle vom Ladenschild eines Metzgers gegenüber abgelesen –, »ich würde gern mit dem Dottore sprechen.«
    »Der Dottore ist noch nicht da.«
    »Wissen Sie, wann ich ihn erreichen kann?«
    »Er sollte jeden Moment kommen. Wenn es dringend ist, können Sie gern Ihre Nummer hinterlassen.«
    »Nein, danke, es ist nicht dringend. Vielleicht versuche ich es später noch einmal. Auf Wiederhören.«
    Als er zwanzig Minuten später eintraf, erkannte ich ihn sofort. Ich hätte seine Beschreibung aus dem Roman auswendig hersagen können.
    Ein kleiner, schmächtiger, harmlos aussehender Mann mit sanftem Blick hinter dicken Brillengläsern. Er war um die sechzig, und nur wenn er lächelte, blitzte etwas unergründlich Brutales in seiner Miene auf.
    Alles passte. Der Mann, der das Haus betrat, nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, war klein und schmal, trug eine Brille und schien von der anderen Straßenseite aus um die sechzig zu sein.
    Es gab nur einen winzigen Unterschied zum Buch. Der Arzt aus dem Roman war Gynäkologe, dieser – das verriet das Schild neben dem Eingang – war Neurologe. Eine Nebensächlichkeit, sagte ich mir, während ich wartete. Kleine Veränderungen zugunsten der Fiktion.
    Mehr als fünf Stunden wartete ich dort, die Hand am Pistolenknauf, als wäre es eine echte Waffe, die ich im Notfall griffbereit haben müsste.
    Hin und wieder verschwand jemand im Haus, und ich fragte mich, wer von diesen Menschen – vor allem von den Frauen – zu seiner Praxis unterwegs war. Vielleicht befand sich unter ihnen das neue Opfer, dachte ich mit einem heißen Schauder. Ich hatte mich in das Konstrukt eines Romans begeben und war drauf und dran, dessen Verlauf zu ändern.
    Kurz vor zehn kam der Arzt heraus. Wir waren fast am Stadtrand, die Straßen waren leer, es gab keinerlei Bars oder Restaurants in der Nähe. Die ideale Voraussetzung für mein Vorhaben. Ich stieg aus dem Lieferwagen, öffnete die Ladeklappen und überquerte die Straße.
    »Dottore, Dottore?«, sagte ich, als ich ganz dicht hinter ihm war. Er drehte sich um, und ich hielt ihm die Pistole ins Gesicht.
    »Komm mit, Arschloch.«
    »Wollen Sie Geld?«, fragte er und griff sich an die Gesäßtasche. Mit der freien Hand verpasste ich ihm eine Ohrfeige.
    »Komm mit, Arschloch, oder ich mach dich kalt.« Ich blickte mich um und drängte ihn hastig zum gegenüberliegenden Bürgersteig und in den offenen Lieferwagen. Ich kletterte hinterdrein, schloss die Ladetür und gab ihm noch eine Ohrfeige, damit er nicht auf falsche Gedanken kam. »Wenn du
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