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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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beispielsweise, dass sie im Ausland gewesen war und das Telefon zu Hause gelassen hatte. Ich würde so tun, als wäre nichts, und sagen, dass ich sie anrufe, weil ich gerade beruflich in Bari sei. Ob sie nicht Lust hätte, sich ein bisschen über die Zukunft ihres Romans zu unterhalten? Sie müsse sich doch nicht entschuldigen, nicht auf meine Mails geantwortet zu haben, klar sei das für sie eine wirre Zeit gewesen, das verstehe ich doch.
    Ich hatte diese imaginäre Unterhaltung so genau im Ohr, dass ich beim Wählen der Nummer fast sicher war, das Telefon würde klingeln und sie würde abheben, und im nächsten Moment wäre der Irrsinn vorüber.
    Doch das Telefon klingelte nicht, und eine halbe Stunde später saß ich im Taxi Richtung Torre a Mare, das einige Kilometer außerhalb der Stadt lag und wo – sofern sie mir nicht eine falsche Anschrift gegeben hatte – Natalia wohnte.
    Oder gewohnt hatte.
    Der Taxifahrer kannte die Adresse nicht, doch das störte mich nicht. Er sollte mich einfach irgendwo rauslassen – es war ein kleines, ehemaliges Fischerdorf, hatte ich mir sagen lassen, also würde ich alles zu Fuß erreichen können –, dann hätte ich noch genug Zeit, mich innerlich auf das Treffen vorzubereiten.
    »Also, was sollen wir machen, sollen wir jemanden nach der Adresse fragen?«
    »Nein, danke, halten Sie hier. Ich steige aus, trinke noch einen Kaffee, lasse mir den Weg zeigen und gehe zu Fuß. Das Viertel ist doch nicht so groß, oder?«
    Es sei nicht groß, bestätigte mir der Taxifahrer und ließ mich an einer Mole voller Fischerkähne und kleiner Sportboote aussteigen.
    Es war ein winterlicher Tag. Der Himmel war bedeckt, es war windig und für diese Gegend ziemlich kalt. Wir im Norden glauben nämlich, im Süden scheine ständig die Sonne und die Leute gingen von März bis November baden. Jetzt war Ende November, und natürlich ging niemand baden.
    Abgesehen von einem kleinen Platz und ein paar von Läden gesäumter Gassen, die mich an gewisse Dörfer in der portugiesischen Provinz erinnerten, strahlte Torre a Mare die Tristesse von Küstenorten in der Nebensaison aus. Wenige Leute waren unterwegs, die Häuser sichtbar unbewohnt, Restaurants und Buden verrammelt.
    Ich betrat eine Bar, trank einen Kaffee und fragte die junge Frau an der Kasse, ob sie mir sagen könne, wo das Wohnviertel Caribe liege. Sie konnte es, auch wenn sie meiner Frage mit leisem Misstrauen zu begegnen schien. Es stellte sich heraus, dass es nicht ganz so nah war wie angenommen, offenbar war Torre a Mare doch nicht so klein, wie der Taxifahrer behauptet hatte.
    Ich brauchte gut zwanzig Minuten. Die Wohnsiedlung Caribe hatte zweifellos schon bessere Tage gesehen. Schon das große Eingangstor und die verwahrlosten Alleen zeugten von Verfall, Trübsal und kläglich verronnener, von Staub und Rost gezeichneter Zeit.
    An den Säulen, die das Tor flankierten, waren Klingelschilder angebracht. Bei vielen war das Namensfeld neben dem Knopf leer, einige trugen Nummern, andere fremdländische Namen, asiatische und osteuropäische. Manche waren in altmodischen Lettern gesetzt, was irgendwie pathetisch wirkte. Familie Grandolfo stand auf einem davon. Ich stellte mir vor, wie Signor Grandolfo in den Sechzigerjahren vielleicht voller Stolz eine Zweizimmerwohnung in der Caribe-Siedlung gekauft hatte, für ihn womöglich ein Moment der gesellschaftlichen Emanzipation. Eine Emanzipation, die es gar nicht gegeben hatte, wenn er seine Sommerferien vierzig Jahre später – vorausgesetzt, er war noch am Leben – noch immer an einem solch schreiend trostlosen Ort verbrachte.
    Ich schweifte mal wieder ab. Wie immer.
    Ich las Name für Name, doch der von Natalia B. war nicht dabei.
    Gerade überlegte ich, wie ich weiter verfahren sollte – bei jemandem mit philippinischem Namen oder vielleicht bei der Familie Grandolfo klingeln und fragen, ob sie mir das Tor unten öffnen könnten, weil ich eine Schriftstellerin suchte, die vermutlich auch als Nutte arbeitete? –, als ich neben den Klingelschildern und halb von einer namenlosen, wilden Rankpflanze überwuchert eine kleine Eingangspforte entdeckte. Sie war offen.
    Ich zögerte kurz (was sage ich, wenn mich jemand hineingehen sieht?), dann öffnete ich beherzt und trat ein. Ich suchte die Via delle Acacie, doch da es keinerlei Hinweisschilder gab und kein menschliches Wesen zu sehen war, gestaltete sich dies schwierig.
    Ich wanderte eine Weile durch nach Blumen und Pflanzen benannte und von
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