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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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verwilderten Gärten und Höfen gesäumte Straßen. Endlich traf ich zwei lebende Wesen: einen alten Mann mit einem uralten Köter. Keiner der beiden wirkte besonders gesellig.
    »Guten Tag, Signore, darf ich Sie etwas fragen?«
    Er – der Mann, nicht der Hund – ließ eine Art Grunzen verlauten.
    »Ich suche die Via delle Acacie, aber ich kenne mich hier einfach nicht aus. Können Sie mir bitte sagen, wie ich dahin komme?«
    Zu viele Erklärungen, typisch für jemanden, der sich blöd vorkommt. Der Alte starrte mich ein paar Sekunden an, und als ich schon fürchtete, er könnte mich fragen, wer ich sei und was ich hier wollte, und vielleicht mit der Polizei drohen, antwortete er mit einer Stimme, die von einem starken Akzent geprägt war und der man die Millionen Zigaretten, Hektoliter billigen Biers und endlosen, trostlos verlebten Jahre anmerkte.
    Ich müsse umdrehen, Via delle Acacie sei direkt beim Ausgang.
    Es sei aber noch zu früh, fügte er in weltmännischem Ton hinzu, als wäre ich der letzte Hinterwäldler. Für was sei es zu früh?
    Wollte ich denn nicht zu den Nutten?, fragte er mit leisem Argwohn, denn was sollte ich sonst sein als ein Freier mit gestörtem Biorhythmus.
    Ich überlegte kurz und antwortete nicht. Ich machte lediglich eine knappe Kopfbewegung, die bedeuten sollte, nein, ich wollte nicht zu den Nutten und außerdem gehe ihn das einen Dreck an. Dann drehte ich mich um und ging Richtung Via delle Acacie.
    Das Wohnhaus war noch heruntergekommener als die restliche Siedlung, soweit das überhaupt möglich war.
    Auf einem Balkon im Erdgeschoss, von dessen Geländer sogar die Rostschutzfarbe abgeblättert war, hing Wäsche zum Trocknen. Auf dem Klingelschild standen nur Nummern und ein unaussprechlicher, fast nur aus Konsonanten bestehender Name.
    Niemand war auf der Straße. Niemand auf den Balkons. Es war so still und trostlos, dass es fast schon wieder schön war.
    Nachdem ich rund zehn Minuten dort gestanden hatte in der Hoffnung, es könnte etwas passieren, das mir eine Entscheidung abnehmen würde, drückte ich auf die Klingeln. Niemand antwortete, doch nach ein oder zwei Minuten trat eine Frau undefinierbaren Alters mit pechschwarzer Haut auf den Balkon mit der Wäsche.
    Amrita.
    In Das doppelte Leben der Natalia Blum gibt es eine Nebenfigur, eine Mauritierin namens Amrita, eine Freundin der Protagonistin. Ihre Beschreibung stimmte perfekt mit der Frau überein, die mich misstrauisch vom Balkon herab anstarrte, sodass ich kurz davor war zu fragen, ob sie tatsächlich so heiße. Was ich wolle? Ich sagte, ich suche eine junge Frau, von der ich glaubte, dass sie hier wohne. Eine von den Nutten? Offenbar nannte man die Dinge hier beim Namen. Ich wisse nicht, ob sie eine Nutte sei, ich suchte sie, weil – fieberhaft versuchte ich mir etwas Glaubhaftes einfallen zu lassen, das es mir dennoch erlaubte, weitere Fragen zu stellen – ich ihr eine öffentliche Verfügung zustellen müsse.
    »Hier wohnen viele Mädchen. Die kommen, gehen, manche hier nur arbeiten, wohnen bei Zuhältern. Ich arbeite, die fast nie sehe. Besser so, sind fast alle Schlampen. Nutten«, schloss sie, um klarzustellen, wie sie die Dinge sah.
    »Das Mädchen, das ich suche, ist blond, ziemlich groß, ich glaube, sie heißt Natalia …«
    Das Gesicht Amritas oder wie sie sonst heißen mochte, hellte sich auf.
    »Natalia … Sie nicht Schlampe. Ich nicht glaube, dass sie Nutte ist. Sie nett, sie redet mit mir, will von mir wissen. Meine Freundin.«
    Klar will sie alles von dir wissen, deine Freundin Natalia. Sie braucht es für ihr Buch. Schriftsteller sind alle gleich.
    »Können Sie mir sagen, wann ich sie antreffen kann?«
    »Ich sie viele Tage nicht gesehen.«
    »Sie ist seit vielen Tagen nicht mehr hier gewesen?«
    »Ja.«
    »Ist sie umgezogen?«
    Die Frau starrte mich verständnislos an. Das Verb umziehen schien in ihrem Wortschatz nicht vorhanden zu sein.
    »Wissen Sie, ob sie die Wohnung gewechselt hat, ob sie woanders hingegangen ist?«
    »Sie kommt nicht mehr hierher.«
    »Ich meine: Hat sie ihre Sachen mitgenommen, was weiß ich … Möbel, Bücher, Anziehsachen?«
    »Ich nicht gesehen. Sie kommt nicht mehr.«
    »Aber haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte? Haben Sie eine Telefonnummer oder eine andere Adresse?«
    »Ich nichts habe.« In ihrer Stimme schwang nun ein argwöhnischer, irritierter Unterton mit. Als Natalias Name gefallen war, hatte sie sich ein bisschen entspannt, doch jetzt fragte sie sich
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