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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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…«
    »Genau, und ein Teil meiner Arbeit besteht darin, neue Autoren zu finden, die es wert sind, veröffentlicht zu werden.«
    Sicuteri fragte, ob es mich störte, wenn er rauchte. Es störte mich sehr, doch ich sagte, das sei völlig in Ordnung. Er zündete sich eine Zigarette an und machte mir ein Zeichen fortzufahren.
    »In den vergangenen Wochen habe ich einen hervorragenden Roman in die Finger bekommen. Meistens, oder sagen wir, fast immer, landet bei uns nur unbeschreiblicher Mist. Doch dieser ist sehr gut und kam ohne Begleitschreiben. Da war nur eine E-Mail-Adresse, eine Telefonnummer und die Adresse der Autorin.«
    Ich hielt inne und sah Sicuteri an, um zu sehen, wie er auf meine – fast wahre – Geschichte reagierte. Er blickte höflich zurück und wartete darauf, dass ich zum Punkt kam.
    »Nun ja, ich habe ihr geschrieben, ihr Roman würde uns interessieren und sie solle mir den Rest schicken.«
    »Und?«
    »Sie meinte, sie freute sich, nein, sie sei begeistert. Eine natürliche Reaktion für einen angehenden Schriftsteller, der von einem Verlag wie meinem ein solches Angebot bekommt. Sie sagte, sie würde mir nach und nach den Rest schicken.«
    »Was ist dann passiert?«
    Ich war kurz versucht, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen. Das heißt, ich war versucht zu erzählen, was mir bei der Lektüre des Manuskriptes durch den Kopf gegangen war und in diesem Moment durch den Kopf ging: der eigentliche Grund meines Besuches. Ich war versucht ihm zu sagen, dass ich fürchtete, Natalia B. könnte etwas Schlimmes zugestoßen sein. Doch dann ging mir auf, dass ich zu viel hätte erklären müssen, vor allem, dass ich eine Romanfigur des Mordes verdächtigte. Also ließ ich es bleiben.
    »Dann hat sie mir zwei Kapitel geschickt, und ich habe ihr geschrieben, dass ich auf die Fortsetzung warte und dass wir auf jeden Fall schon mal über einen Publikationsvertrag reden könnten. Du musst wissen, das passiert nicht so oft. Das passiert so gut wie nie.«
    Sicuteri drückte die Zigarette aus und setzte sich in seinem Bürosessel zurecht.
    »Auf diese E-Mail hat sie nicht geantwortet. Was völlig absurd ist. Ich habe ihr geschrieben, dass ich ihr einen Vertrag anbieten will. Sie ist eine unveröffentlichte Autorin, also eine Nicht-Autorin. Und der Roman ist nicht fertig, also ein Nicht-Roman. Und wir sind … Na ja, einige Autoren würden morden, um von uns einen Vertrag angeboten zu bekommen. Und die antwortet noch nicht mal, um zu sagen: Ah, toll, lass uns drüber reden oder so was. Unfassbar.«
    »Na ja, wer weiß, vielleicht hat sie nichts geschrieben. Vielleicht hatte sie … Wie heißt das noch? Vielleicht hatte sie ’ne Schreibblockade. Vielleicht war deine Mail so ein Schock, dass sie ’ne Schreibblockade gekriegt hat.«
    Das ist gar nicht so abwegig, sagte ich mir überrascht. Wieso hatte ich daran nicht gedacht?
    »Klar, daran hatte ich auch schon gedacht«, log ich. »Aber das ist total abwegig. Nicht, dass sie eine Blockade gekriegt hat, dass ist tatsächlich möglich. Aber es ist nicht nachvollziehbar, dass sie sich nicht gemeldet hat, und sei es, um den Kontakt zu halten. Und dann habe ich ihr noch mal geschrieben, um sie zu fragen, wie es vorangeht; ich hab ihr mehrmals geschrieben und nie eine Antwort bekommen. Ich hab sogar versucht sie anzurufen, aber das Telefon ist immer abgeschaltet.«
    »Vielleicht hat sie ein Angebot von einem anderen Verlag bekommen, hat es angenommen oder will es annehmen und hat dir gegenüber ein schlechtes Gewissen.«
    Nicht einmal daran hatte ich gedacht. Kochte diese ganze Geschichte mir die Birne weich?
    Von mir selbst beschämt log ich wieder.
    »Ganz genau. Und das fürchte ich. Deshalb muss ich sie finden, ehe sich jemand anders das Buch schnappt. Sofern das nicht schon passiert ist.«
    Er sah mich einige Sekunden lang schweigend an. Dann nickte er und zündete sich noch eine Zigarette an. Einer der wenigen, die noch rauchen, dachte ich. Ist das in öffentlichen Büros nicht verboten? Dann sah er mich wieder mit fragender Miene an. Die unausgesprochene Frage war: Wieso erzählte ich ihm das alles? Wollte ich die Steuerfahndung ausschwärmen lassen, um die verschwundene Schriftstellerin Natalia B. zu suchen, oder was?
    »Du bist der Einzige, den ich um Rat fragen kann. Ich habe keine Ahnung, wie man eine Person ausfindig macht.«
    »Tja, in der Regel musst du dich an einen Privatdetektiv wenden. Aber die erste Frage ist doch: Will diese Person gefunden werden?
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