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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall
Autoren: Sandra Lüpkes
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Skuld
    [… noch sieben Tage …]
    Heute Nacht wird es brennen.
    Muss es brennen.
    Feuer ist schon immer das Element gewesen, welches das Ende einer alten und den Beginn einer neuen Ära gestaltet hat. Ich denke an die Urkraft der Erde, die Lava bricht aus der Tiefe hervor, zerreißt die Erde, verbrennt die Luft, um schließlich neues Land zu werden. Zerstörung, Umwandlung, Auferstehung.
    Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
    Ich werde den Verteilerkasten öffnen, die Stromkreise verbinden und eine Sollbruchstelle dazwischensetzen, ein braunes, dünnes Kabel. Sieht harmlos aus. Ist es auch. Vorerst.
    Doch am Abend werden die Menschen, die in diesem Haus wohnen, von der Arbeit kommen. Sie werden das Licht anschalten, vielleicht auch das Radio, sie kochen mit Starkstrom am Herd. Dann wird sich das braune, dünne Kabel erhitzen.
    Später, nach acht Uhr, werden die Fernsehgeräte dazukommen. Bei Einsetzen der Dunkelheit knipsen sie ihre Leselampen an, die Halogenstrahler in den Ecken der Wohnzimmer. Zu diesem Zeitpunkt wird das braune, dünne Kabel bereits glühen.
    Sobald das Kabel glüht, wird sich seine Beschaffenheit verändern. Das braune Plastik wird schmelzen. Das Kupfer wird mit erhitztem Schwefel in Berührung kommen. Es wird stinken wie die Hölle. Doch im Keller, wo der Verteilerkasten hängt, wird um diese Uhrzeit niemand mehr sein, der es riechen könnte.
    Selbst dann wird noch nichts passieren.
    Durch den Schwefel wird sich das braune, dünne Kabel in eine schwarze, poröse Schnur verwandeln. Und erst, wenn irgendjemand in diesem Haus, das in dieser Nacht brennen wird, den Stromschalter betätigt – zum Beispiel, weil er eine schwache Blase und vor dem Einschlafen noch etwas getrunken hat, schließlich auf die Toilette muss und im Badezimmer das Licht einschaltet, um etwas zu sehen –, dann …
    Das Kabel wird zu Staub zerfallen, der Strom wird Funken schlagen: Kurzschluss!
    Es gibt einen Hauptschalter, der sich in diesem Moment umlegen sollte, klack, und alles wäre gut. Dann würden schlimmstenfalls ein paar Bewohner morgen früh verschlafen, weil sich ihre elektrischen Radiowecker ausgestellt haben.
    Doch ich habe etwas dabei. Ein Stück Klebeband. Grausilbrig. Genauso harmlos wie das braune, dünne Kabel. Ich werde es über diesen Schalter heften und den Hebel außer Gefecht setzen. Mit einem schlichten Stück Klebeband.
    Und dann wird es brennen.
    Heute Nacht.
    Zerstörung, Umwandlung, Auferstehung.
    Vergangenheit, Gegenwart – und die Zukunft ist mein.

Verðandi
    [11. Juni, 8.55 Uhr, Peter-Fechter-Ufer,
Hannover, Deutschland]
    Für immer war so ein Ausdruck, mit dem Wencke nichts anfangen konnte. Sie selbst würde lieber eine Handvoll Kellerasseln in den Mund nehmen als diesen Schwur.
    Deswegen fand sie es ärgerlich, dass Axel gestern am Telefon, in jener Millisekunde, bevor sie die rote Taste drückte, diese zwei Worte von sich gegeben hatte: »Ich werde dich für immer …« Klack. Aufgelegt. Was auch immer er sie für immer würde, sie wollte es nicht erfahren.
    Sie war spät dran. Ihr Vorderrad klebte ziemlich platt am Boden und die Fahrt an der Ihme entlang war entsprechend mühsam. Heute kam irgend so ein Ministeriumsfuzzi ins Behördenhaus am Waterlooplatz und schaute sich die Abteilung an. Also war Pünktlichkeit gefragt, hatte Tilda Kosian gestern und vorgestern immer wieder in diversen Nebensätzen betont. Pünktlichkeit und übersichtliche Akten und gutes Betriebsklima, bitte schön, das galt für alle! Damit der Ministeriumsfuzzi seine Ideen von den Stellenstreichungen beim LKA Niedersachsen umgehend vergaß.
    Am Schwarzen Bär musste Wencke aus dem Ufergrün tauchen, auf die Straße wechseln und an der Ampel warten. Da standen sie, diese Frauen, extra nur für sie direkt gegenüber platziert. Die eine mit einem Bauch wie ein prächtiger Halloweenkürbis, die andere bereits mit ihrem kleinen Lebensglückim Wagen vor sich. Babys, Babys, Babys! Scheiße, dachte Wencke, warum hat er es mir erst jetzt gesagt? Wenn seine Frau schon in der sechsunddreißigsten Woche ist, Himmel, dann hat Axel mindestens sieben Monate lang verschwiegen, dass Kerstin ein Kind erwartet. Diese Tatsache konnte man im Kopf hin und her schieben, wie man wollte, es kam immer aufs Selbe raus: Er war ein Mistkerl. Ein Feigling. Ein Betrüger. Er hätte es gleich sagen müssen, an dem Tag, als auf diesem handelsüblichen Teststreifen ein himmelblauer Strich erschienen war. Da hätte er sie anrufen und sagen müssen:
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