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Götterfall

Götterfall

Titel: Götterfall
Autoren: Sandra Lüpkes
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getauft wurde und bei der es darum ging, Verbrechen zu analysieren, in Einzelteile zu zerlegen, in klitzekleine Details, die für sich genommen eigentlich aus lauter Menschlichkeit bestanden. Der grausamste Mord konnte, wenn er auf die Grundbausteine seiner Materie reduziert wird, etwas von Liebe und Hoffnung erzählen. Im Kleinsten begann man, das Wesen des Verbrechens zu begreifen. Stück für Stück. Eine faszinierende Arbeit.
    Der Ministeriumsfuzzi hüllte alle Beteiligten in eine Laberwolke, die sich aus Begriffen wie »Steuergelder«, »Effizienz«und »Kriminalstatistik« zusammensetzte. Auf seinem Zettel waren sämtliche Beteiligungen der OFA an vergangenen Ermittlungen und anderen Projekten aufgelistet: die Zerschlagung rechtsradikaler Terrorzellen, Fälle von Ehrenmord und Rockerkriminalität, Begutachtung und Verhörbegleitung bei seriellen Sexualstraftätern. Irgendwann legte er das Blatt aus der Hand, nahm einen Schluck Kaffee und kam zur Sache: »Ihre vielfältige Arbeit in Ehren, aber es nutzt nichts, wir müssen sparen.«
    »Was heißt das konkret?«, fragte Boris.
    »Es geht um eine ganze Stelle. Wie wir das am geschicktesten aufteilen, wird noch zu entscheiden sein.«
    Im Klartext bedeutete das, einer der drei Ganztags-Profiler würde Federn lassen müssen. Tilda Kosian leitete die Abteilung schon seit sechs Jahren, sie saß also ziemlich fest im Sattel. Boris Bellhorn war, obwohl um einiges jünger als Wencke, auch schon deutlich länger dabei.
    Blieb nur noch sie, Wencke, seit drei Jahren im Team, als alleinerziehende Mutter eines Jungen entsprechend unflexibel einsetzbar, dazu mit einer Vorliebe für halsbrecherische Alleingänge ausgestattet. Zwar hatte sie einige Erfolge vorzuweisen, doch aufgrund ihrer jahrelangen Erfahrung bei der Auricher Mordkommission wäre sie noch am ehesten mit einer anderen Abteilung des LKA kompatibel. Es war klar, wer hier würde Platz machen müssen, wenn der Rotstift regierte.
    »Nun schauen Sie mich nicht so an«, bat der Mann im Zweireiher. »Wir rechnen das im Ministerium in Ruhe durch. Unsere Entscheidung wird erst im nächsten Monat fallen, vor den Sommerferien wissen Sie Bescheid.«
    »Na toll«, rutschte es Wencke raus. Der Mann hatte ja keine Ahnung, wie sehr diese Aussage ihre Vorfreude auf die nächsten Wochen weiter dimmte. Ihr Geliebter wurde Vater, ihr Job stand mächtig auf der Kippe – und sie sollte entspannt mit ihrem vorpubertären Sohn Emil die Badehose einpacken?
    »Ach ja, wo wir nun schon mal so gemütlich zusammensitzen«, er setzte ein 1-a-Wahlplakatlächeln auf, »können wir gleich klären, wer die Vertretung beim anstehenden Symposium übernimmt. Frau Kosian hat mir bereits telefonisch mitgeteilt, dass ihr wegen des Brands eine Dienstreise derzeit kaum möglich ist.« Der Ministeriumsfuzzi war gut sortiert, zackig schlug er den nächsten Ordner auf und reichte die darin liegenden Flyer herum. Die Anwesenden griffen eher zögerlich zu. »Die Einladung geht von Brüssel aus. Wir sind sehr froh darüber, dass man uns bei dieser Tagung dabeihaben will, und erhoffen uns – salopp formuliert  – auf diesem Weg auch einen kleinen Zuschuss aus den Töpfen der EU.«
    »Sie meinen, wenn wir uns dort auf diesem Symposium gut präsentieren, besteht die Chance, unsere Jobs zu retten?« Wencke mochte es nicht, wenn Bürokraten behaupteten, sie würden etwas salopp formulieren , und man trotzdem kein Wort verstand.
    »Es ist ja nicht so, dass wir unbedingt jemanden hier abziehen wollen«, stellte der Schlipsträger klar und nahm sich ein Waffelröllchen. »Wenn wir bei entsprechenden EU-Veranstaltungen deutlich in Erscheinung treten, stehen die Chancen vielleicht etwas besser.« Er ließ seinen Blick schweifen. Boris machte sich immer kleiner, logisch, er wollte sich keine Arbeit und erst recht keine Dienstreise aufhalsen, wenn zu Hause sein musikalischer Marius auf ihn wartete.
    »Nun, ich höre niemanden hier schreien.«
    Wencke klappte die farblose Infobroschüre auseinander. Das Tagungsthema passte zur Optik: Zusammenhänge zwischen altgermanischen Mythen und moderner Politik – und ihre Auswirkung auf die Zukunft der Europäischen Union. Der Titel klang so staubtrocken, dass Wencke erst einmal zum Wasserglas greifen musste.
    »Frau Tydmers, wie wäre es mit Ihnen?«
    »Tja.« Sie wendete den Flyer. Über einem seltsam zerfranstenFleck, der aussah wie eine auf den Kopf gedrehte Comicsprechblase, war das Datum notiert, am kommenden Donnerstag
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