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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit
Autoren: Gianrico Carofiglio
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notwendig sei, sie könne mir gern eine E-Mail schicken. Sobald ich eine Minute Zeit hätte (diesen Schwachsinn habe ich tatsächlich geschrieben), würde ich das Kapitel ausdrucken und lesen.
    Mit größtem Wohlwollen, Ihr … , schloss ich pathetisch.
    Eine Woche später kamen zwei neue Kapitel, begleitet von einer sehr knappen Mail. Grüße und nicht viel mehr.
    Im zweiten dieser Kapitel ging Natalia Blum wegen einer Kontrolluntersuchung zum Arzt. Und beim Auftauchen dieser Figur im Roman und im Leben seiner Protagonistin wurde der Leser (also ich) mit einem Schaudern gewahr, dass er sie bereits kannte.
    Aus demselben Roman.
    Aus der in dritter Person erzählten Parallelgeschichte.
    Gleich nach der Lektüre der beiden Kapitel antwortete ich auf die E-Mail. Das heißt, eine Stunde nachdem ich den Anhang geöffnet hatte.
    Ich antwortete mit einer ebenso unerklärlichen wie unvermeidlichen inneren Unruhe. Ironie des Schicksals, dachte ich, für einen, der sein Leben damit zugebracht hat, die Erzählungen anderer zu manipulieren. Für einen, der wissen sollte, wie eine Erzählung funktioniert und an welchen feinen Stellschrauben man drehen muss, um den folgsamen Leser zu täuschen.
    Ich hatte gut reden, aber dennoch wurde ich das beängstigende Gefühl nicht los, dass zwischen dem Roman und dem Leben von Natalia B. eine andere und noch viel verhängnisvollere Verbindung bestand, als es normalerweise zwischen dem Text und dem Leben des Autors der Fall ist.
    Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sowohl die Hauptfigur als auch die Autorin des Romans in tödlicher Gefahr waren.
    Liebe Natalia,
    mit großem Vergnügen habe ich die beiden neuen Kapitel Ihres schönen Romans gelesen und möchte Ihnen den positiven Eindruck meiner vorherigen Mail bestätigen.
    Ich würde mich mit Ihnen gern mündlich ein wenig über die Erzählung und ihren Fortgang sowie über die Möglichkeit eines Publikationsvertrages für Ihren Roman austauschen.
    Ich freue mich, von Ihnen zu hören, und verbleibe mit den herzlichsten Grüßen, Ihr
    Marco
    Nachdem ich die Senden-Taste gedrückt hatte, fühlte ich mich besser. Als hätte ich die Formel gefunden, um die Verstörung zu vertreiben, und wäre von der arglistigen Verführung der Fiktion wieder zur beruhigenden Prosa des Alltags zurückgekehrt. Natalia würde mir umgehend antworten, da war ich mir sicher. Ich hatte ihr einen Vertrag in Aussicht gestellt, noch ehe ihr Roman überhaupt fertig war. Kurz: Der Traum eines jeden angehenden Schriftstellers.
    Sie würde mir umgehend antworten, wir würden über die Entwicklung ihres Buches sprechen, sie würde ihre Arbeit unter meiner Aufsicht fortsetzen, die unfassbare und gefährliche Figur, die sich hinter den Kulissen ihrer Erzählung herumtrieb, würde gezähmt werden. Und angesichts der Qualität des Romans würde ich einen weiteren verlegerischen Coup landen.
    An dem Abend ging ich auf eine Party. Ein Mädchen mit einem Riesenbusen und einer entfernten Ähnlichkeit mit der jungen Senta Berger nahm mich in Beschlag und fragte mich, wie man Schriftsteller würde, sie hätte nämlich einen Haufen Geschichten zu erzählen und – wortwörtlich – großes inneres Potential. Dabei sah sie mich mit vielsagendem Ausdruck an.
    Wie seltsam, sagte ich mir. Es fällt mir gar nicht ein sie zu fragen, ob sie auch den Rest des Abends mit mir verbringen will. Ich hätte mir Sorgen machen müssen, doch stattdessen durchlief es mich heiß, wie früher, wenn ich mich als kleiner Junge verliebte.
    Ich schlief und träumte wirr. Hochgefühle, gemischt mit dem unguten Gefühl dräuender Gefahr. Kaum hatte ich am nächsten Morgen das Büro betreten, schaltete ich den Computer an und kontrollierte die Mails. Eigentlich hätte Natalia mir schon geantwortet haben müssen. Da waren ein Dutzend unwichtiger Mails, aber keine von ihr.
    Wieso antwortet eine Laienschriftstellerin nicht umgehend einem Lektor, der ihr die Veröffentlichung ihres ersten Romans anbietet? Ich fand keine plausible Antwort.
    Wieder kam mir der verstörende Gedanke an das letzte Kapitel. Ich dachte an Natalia Blum, die die Arztpraxis betrat, und daran, was dann passieren könnte.
    Den ganzen Tag über kontrollierte ich wie besessen den Posteingang, und ebenso die beiden folgenden Tage, bis mir schließlich dämmerte, dass meine Mail sie vielleicht gar nicht erreicht hatte. Also beschloss ich, sie noch einmal zu schicken, begleitet von ein paar Worten und einer kleinen Lüge. Das beruhigte mich wieder
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