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Wassergeld

Wassergeld

Titel: Wassergeld
Autoren: Gmeiner-Verlag
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1. Die Weihnachtsfeier
    Es hätte so ein schöner Tag werden können.
    Meine letzten irdischen Atemzüge hatte ich mir angenehmer vorgestellt. Seit Minuten rang ich verzweifelt um eine lebensnotwendige Mindestmenge an Sauerstoffmolekülen. Mein Röcheln und Stöhnen schien niemand zu bemerken. Trotz winterlicher Temperaturen lief mir der Schweiß in Bahnen über die Schläfen. Mit letzter Kraft konnte ich meinen Kopf nach rechts drehen: Würde sie sich erbarmen und mich vor dem Erstickungstod bewahren? Hatte sie überhaupt begriffen, dass ich gerade eine Nahtoderfahrung durchmachte? Verzweiflung stieg in mir hoch, als sie nur ärgerlich den Kopf schüttelte.
    »Mensch, Reiner«, knurrte meine Frau Stefanie. »Einmal im Jahr werde ich wohl von dir verlangen dürfen, dass du eine Krawatte anziehst.«
    Mit meinem linken Zeigefinger versuchte ich, meinen Kehlkopf von dem unsagbaren Druck zu befreien und keuchte ihr entgegen: »Bei Pauls Taufe wäre ich fast über den Jordan gegangen!«
    Stefanie schüttelte erneut, immer noch recht verärgert, den Kopf. »Paul ist inzwischen sieben, falls du das vergessen hast. Es ist beschämend, dass man einem Mann, der bald 50 Jahre alt wird, die Krawatte binden muss, weil er das nicht selbst fertigbringt.«
    Aufgebracht erwiderte ich: »Jetzt übertreib mal nicht so schamlos. Bis zu meinem 50. dauert es noch eine Weile. Außerdem werden Männer nicht alt, sondern nur reif.«
    »Dann lerne endlich Krawatten zu binden, das hat nämlich auch etwas mit Reife zu tun«, konterte sie bissig. »Du hast deine Krawatte jetzt seit zehn Minuten an, andere Männer tragen sie den ganzen Tag.«
    Schicksalsergeben konzentrierte ich mich wieder auf den Straßenverkehr. Meine Frau und ich waren unterwegs zur Weihnachtsfeier der Schifferstadter Kriminalinspektion. Die Feiern in den vergangenen Jahren waren immer recht ausgelassen gewesen. Nicht selten zogen wir zu später Stunde, tanzend auf den Bierzelttischen, in unserem Sozialraum eine wilde AC/DC-Party ab. Seit diesem Jahr war damit Schluss. Als ehemaliger kommissarischer Dienststellenleiter habe ich ungefragt einen neuen Chef vor die Nase gesetzt bekommen. Kriminaloberrat Klaus Pierre Diefenbach, der wegen seiner Initialen von allen nur KPD genannt wurde, war wegen einiger Verfehlungen vom Ludwigshafener Präsidium nach Schifferstadt aufs Land strafversetzt worden. Seit er das Regiment übernommen hatte, ist nichts mehr, wie es war. Sein Leitspruch war ›Ein Chef, der bewundert wird, ist ein guter Chef‹. Er wurde zwar mit Sicherheit von niemandem bewundert, bildete sich allerdings stets das Gegenteil ein. Zum Fiasko entwickelte es sich, als bekannt wurde, dass KPD ein wahrhaftiger Gourmet war und eine Haute Cuisine für ihn Mindeststandard bedeutete. So kam es, dass alle seine Untergebenen einen Knigge- und Kochkurs aufgebrummt bekamen, damit auf KPDs Weihnachtsfeier nichts schiefging. Sämtliche Bürgermeister des Landkreises, den Landrat und ein halbes Heer an Journalisten hatte er in das Dreisternerestaurant Tullas Erben nach Limburgerhof eingeladen. Für uns bedeutete das neben der mörderischen Anzug- und Krawattenpflicht eine mindestens zweistündige Selbstbeweihräucherungsrede von KPD.
    Selbstverständlich freute ich mich, dass Stefanie neben mir saß. Heute Mittag hatte meine Schwiegermutter unsere beiden Kinder Paul und Melanie mit zu sich nach Frankfurt genommen. Erst übermorgen, am Sonntag, wird sie die beiden zurückbringen. Stefanie, die seit zwei Jahren von mir getrennt lebte, blieb dieses Wochenende bei mir. Wir freuten uns auf zwei ruhige und entspannte Tage. Es galt, Zukunftspläne zu schmieden. Kurzfristige – denn in einer knappen Woche begannen die Weihnachtsferien, sowie mittelfristige – denn Stefanie war im fünften Monat schwanger. Ich war mindestens so glücklich wie Stefanie. Selbst die mangelhafte Sauerstoffzufuhr konnte daran nichts ändern. Im neuen Jahr würde Stefanie wieder nach Schifferstadt ziehen. Der genaue Zeitpunkt war noch unklar, denn für Paul und Melanie war der Umzug mit einem Schulwechsel verbunden. Ins Auge gefasst hatten wir im Moment Anfang Februar, unmittelbar nach den Halbjahreszeugnissen.
    Das Restaurant, das ich in meinem bisherigen Leben noch nie betreten hatte, tauchte im diffusen Scheinwerferlicht auf. Es war kurz vor 19 Uhr und fast stockdunkel. Ein feiner Nieselregen hing seit Stunden in der Luft und dämpfte das Licht der wenigen Straßenlaternen. Dieses ungemütliche Bild entsprach
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