Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name
Autoren: Sara Paretsky
Vom Netzwerk:
mich herablassend behandelten, wie ihren kleinen jüdischen Affen, dem sie Apfelstückchen gaben, wenn er für sie tanzte.
    Ich war auch auf Carl stolz. Seine Musik war etwas so Besonderes, daß ich hoffte, sie würde allen, besonders Ciaire, zeigen, wie besonders ich selbst war. Schließlich hatte sich ein begnadeter Musiker in mich verliebt. Aber auch das behandelten sie mit Herablassung. »Ich komme mir vor wie der Leierkastenmann mit dem Affen«, sagte Carl wütend, nachdem sie ihn eines Tages gebeten hatten, seine Klarinette mitzubringen. Er hatte gespielt, Debussy für Klarinette, aber sie hatten weitergeredet und irgendwann geklatscht, als sie merkten, daß er fertig war. Ich erklärte ihm, es liege nur an Ted und Wallace Marmaduke, Vanessas Mann und ihrem Schwager. Sie waren Banausen, ja, aber daß Ciaire sich genauso unhöflich verhalten hatte, wollte ich nicht zugeben.
    Dieser Streit fand im Jahr nach dem V-E-Day statt. Ich besuchte die höhere Schule, arbeitete aber bereits für eine Familie in North London, um mein Zimmer dort zu finanzieren. Ciaire hingegen wohnte noch zu Hause. Sie bewarb sich damals gerade um ihre erste Stelle als Medizinalassistentin, so trafen wir uns nur, wenn sie mich zum Tee einlud wie an jenem Tag.
    Aber dann, zwei Jahre später, nachdem sie mich das letzte Mal gerettet hatte, wollte sie mich nicht mehr sehen und beantwortete auch meine Briefe nicht, als ich nach London zurückkehrte. Sie reagierte nicht auf meinen Anruf bei ihrer Mutter. Vielleicht gab ihre Mutter meine Botschaft auch gar nicht an sie weiter. Bei meinem Anruf sagte sie mir folgendes: »Meine Liebe, glaubst du nicht, daß ihr, ich meine, Ciaire und du, allmählich euer eigenes Leben leben solltet?« Mein letztes persönliches Gespräch mit Ciaire fand statt, als sie mich drängte, mich für ein Geburtshilfestipendium in den Staaten zu bewerben, ganz von vorn anzufangen. Sie sorgte sogar dafür, daß ich die richtigen Empfehlungen für meinen Antrag bekam. Danach traf ich sie nur noch bei medizinischen Kongressen.
    Ich sah dich, Victoria, kurz an, die du mit deiner Jeans neben mir auf dem Boden saßest und mich mit konzentriertem Gesicht betrachtetest. Am liebsten hätte ich wild um mich geschlagen: Ich wollte kein Mitleid.
    »Wenn du bei Ciaire gewesen bist, weißt du auch, wer Sofie Radbuka war.«
    Du reagiertest vorsichtig, weil du meine Aggressivität spürtest, und sagtest zögernd, du glaubtest, das sei ich.
    »Dann bist du also doch nicht die perfekte Detektivin. Das war nicht ich, sondern meine Mutter.« Das brachte dich durcheinander, und ich konnte mich einer gewissen Freude über deine Verlegenheit nicht erwehren. Du warst immer so direkt, stelltest Verbindungen her, spürtest Leute auf, spürtest mich auf. Solltest du jetzt ruhig ein bißchen verlegen sein.
    Aber mein Bedürfnis zu reden war dann doch irgendwann zu stark. Nach einer Minute sagte ich: »Das war ich.« Es war meine Mutter. Es war ich. Es war der Name meiner Mutter. Ich sehnte mich nach ihr. Nicht nur damals, sondern jeden Tag, jede Nacht, aber damals besonders. Wahrscheinlich dachte ich damals, ich könnte sie werden. Oder daß sie bei mir wäre, wenn ich ihren Namen annähme. Ich weiß nicht mehr, was ich damals dachte.
    Bei meiner Geburt waren meine Eltern nicht verheiratet. Meine Mutter Sofie war der Liebling meiner Großeltern. Sie tanzte durchs Leben wie durch einen großen, hell erleuchteten Ballsaal. Vom Tag ihrer Geburt an war sie ein leichtes, luftiges Geschöpf. Sie gaben ihr den Namen Sofie, nannten sie aber Schmetterling. Und daraus wurde schon bald Lingerl oder Ling-Ling. Sogar Minna, die sie haßte, nannte sie Madame Butterfly, nicht Sofie.
    Dann wurde aus dem Schmetterling ein Teenager, und sie ging zusammen mit den anderen strahlenden jungen Frauen von Wien auf die Matze-Insel. Und genau wie moderne Teenager, die sich im Getto einen schwarzen Lover suchen, entschied sie sich für Moische Radbuka aus der Einwandererwelt der Weißrussen. Martin nannte sie ihn, gab ihm einen westlichen Namen. Er war Cafehausgeiger, das kam fast einem Zigeuner gleich. Und obendrein war er noch Jude. Als sie siebzehn war, wurde sie schwanger mit mir. Er hätte sie geheiratet, das hörte ich die Familie hinter vorgehaltener Hand flüstern, aber sie wollte nicht - keinen Zigeuner von der Matze-Insel. Alle in der Familie waren der Meinung, daß sie in eine Klinik gehen, das Kind bekommen und es ganz diskret zur Adoption freigeben sollte. Alle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher