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Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name
Autoren: Sara Paretsky
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ich immer an Claires Rockzipfel hing und versuchte, in den Naturwissenschaften so gut zu werden, daß ich wie sie Ärztin sein konnte, war meine ganze Familie bereits tot. Vor meinen Augen Schoren sie das silberne Haar meiner Oma. Ich sehe es wie einen Wasserfall auf den Boden um sie herabgleiten; sie war so stolz darauf gewesen und hatte es nie geschnitten. Und meine hohe. Sie war unter ihrer orthodoxen Perücke schon fast kahl gewesen. Die Cousinen, mit denen ich das Bett geteilt hatte und die ich nicht leiden konnte, weil ich nicht mehr mein eigenes hübsches Bett hatte, auch sie waren inzwischen tot. Ich war gerettet worden, einzig und allein, weil mein Opa mich geliebt und das Geld aufgetrieben hatte, um Hugo und mich in die Freiheit zu schicken. Sie alle, auch meine Mutter, die am Sonntagnachmittag immer mit mir gesungen und getanzt hatte, waren hier, hier in diesem Boden, verbrannt zu der Asche, die uns in die Augen weht. Vielleicht ist mittlerweile auch ihre Asche verschwunden; vielleicht haben Fremde sie mitgenommen, sich mit der Seife daraus die Hände gewaschen, meine Mutter das Waschbecken hinuntergespült.
    Nein, eine Abtreibung kam nicht in Frage. Ich konnte all diesen Toten keinen weiteren hinzufügen. Aber ich hatte auch keine Gefühle mehr übrig, mit denen ich ein Kind aufziehen konnte. Nur der Gedanke, daß meine Mutter zurückkommen würde, erhielt mich während des Kriegs bei Minna aufrecht. Wir sind so stolz auf dich, Lottchen, sagte meine Oma, du hast nie geweint, du warst ein braves Mädchen, du hast fleißig gelernt, du warst sogar in einer fremden Sprache Klassenbeste, du hast die Feindseligkeit dieser Hexe Minna ertragen - ich stellte mir vor, wie sie mich am Ende des Krieges mit diesen Worten umarmten.
    Ja, 1944 hörten wir in Einwandererkreisen schon, was passierte - hier und an allen anderen Orten wie diesem. Aber wie viele Menschen starben, wußte niemand, und so hoffte jeder von uns, daß seine Angehörigen verschont geblieben waren. Doch dann wurden sie alle mit einer einzigen Handbewegung hinweggefegt. Max suchte nach ihnen. Er fuhr auf den Kontinent. Ich konnte das nicht, ertrug es nicht. Ich bin seit 1939 nicht mehr in Mitteleuropa gewesen, aber er hat für mich gesucht und mir gesagt, daß sie tot sind.
    Ich hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen: Einerseits wollte ich keine Abtreibung, andererseits konnte ich das Baby nicht behalten. Ich würde keinen weiteren dem Schicksal ausgelieferten Menschen aufziehen, der mir wieder von einem Moment auf den anderen weggenommen werden konnte.
    Ich konnte es Carl nicht sagen. Wenn Carl gesagt hätte, komm, laß uns heiraten, laß uns das Kind aufziehen, hätte er nie verstanden, warum ich das nicht gewollt hätte. Das hätte nicht an meinem Beruf gelegen, den ich mit einem Kind hätte aufgeben müssen. Heutzutage schaffen viele junge Frauen das. Es ist nicht leicht, gleichzeitig Medizin zu studieren und Mutter zu sein, aber niemand sagt mehr, das ist es, deinen Beruf kannst du an den Nagel hängen. Doch 1949, das kannst du mir glauben, hat ein Baby noch das unwiderrufliche Ende einer medizinischen Ausbildung bedeutet. Wenn ich Carl gesagt hätte, daß ich das Kind nicht behalten kann, hätte er mir immer vorgeworfen, mir sei meine Karriere wichtiger gewesen. Er hätte meine wahren Gründe nie verstanden. Ich konnte ihm nichts davon sagen. Ich wollte keine Familie mehr. Ich weiß, es war grausam von mir, ohne ein Wort zu verschwinden, doch die Wahrheit konnte ich ihm nicht sagen, und lügen konnte ich auch nicht. Also bin ich ohne ein Wort gegangen. Später bin ich dann die Retterin der Frauen mit schwierigen Schwangerschaften geworden. Jedesmal wenn ich den OP verlasse, rede ich mir ein, nicht mich selbst gerettet zu haben, sondern ein kleines Stück meiner Mutter, die die Geburt meiner letzten kleinen Schwester nicht lange überlebt hat.
    Und so ging mein Leben weiter. Es war nicht unglücklich. Ich dachte nicht ständig an die Vergangenheit, sondern lebte in der Gegenwart und der Zukunft. Ich hatte meine Arbeit, die mich reich entlohnte. Ich liebte die Musik. Max und ich - ich hätte nicht gedacht, daß ich jemals wieder jemanden lieben könnte, aber zu meiner Überraschung und Freude ist das zwischen uns geschehen. Ich hatte andere Freunde - und dich, Victoria. Du bist mir eine liebe Freundin geworden, ohne daß ich es merkte. Ich habe dich nahe an mich herangelassen, dich für mich zu einem weiteren Unterpfand des Schicksals werden
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