Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name
Autoren: Sara Paretsky
Vom Netzwerk:
sich dabei um eine diabolische Parodie, aber ich bin der Meinung, daß Arbeit tatsächlich betäuben kann. Wenn man auch nur einen Augenblick zu arbeiten aufhört, beginnt das Innere des Menschen sich aufzulösen; schon bald ist er so formlos, daß er sich überhaupt nicht mehr bewegen kann. Das jedenfalls war meine Angst. Als ich erfuhr, was mit meiner Familie passiert war, verlor ich völlig den Boden unter den Füßen. Eigentlich hätte ich mich auf den Schulabschluß vorbereiten sollen, denn das Ergebnis war wesentlich für die Einschreibung in die Universität, aber plötzlich besaßen die Prüfungen nicht mehr die Bedeutung, die sie den ganzen Krieg über für mich gehabt hatten. Jedesmal wenn ich mich zum Lernen hinsetzte, hatte ich das Gefühl, als würden mir die Eingeweide mit einem riesigen Staubsauger weggesaugt.
    Daß ausgerechnet meine Cousine Minna mir zu Hilfe kam, war Ironie des Schicksals. Seit ich zu ihr gekommen war, hatte sie nichts als Kritik für meine Mutter übrig gehabt. Die Nachricht vom Tod meiner Mutter hatte kein respektvolles Schweigen zur Folge, sondern eine noch heftigere Schimpftirade. Heute weiß ich aufgrund meiner Lebenserfahrung, daß das hauptsächlich auf ihre Schuldgefühle zurückzuführen war: Sie hatte meine Mutter gehaßt und war so viele Jahre auf sie eifersüchtig gewesen, daß sie jetzt ihre Gefühllosigkeit, ja sogar Grausamkeit nicht zugeben konnte. Wahrscheinlich trauerte sie selbst, weil auch ihre eigene Mutter verschwunden war und die ganze Familie, die den Sommer stets mit Schwimmen und Reden am Kleinsee verbracht hatte, aber egal. Das ist alles längst vorbei.
    Wenn ich nach Hause ging, streifte ich so lange durch die Straßen, bis ich erschöpft genug war, daß ich nichts mehr empfand, wenn Minna mich fragte: »Du findest also, daß du ein schlimmes Schicksal erleidest? Daß du die einzige Waise in einem fremden Land bist? Hättest du nicht Victor seinen Tee geben sollen? Er sagt, er hat über eine Stunde auf dich gewartet und ihn sich dann selbst gemacht, weil du dir zu gut dazu bist, dich wohl für eine von den >gnädigen Frauen< hältst.« Dabei machte Minna, die zu Hause nur Deutsch sprach, weil sie Englisch nie richtig gelernt hatte - wofür sie sich schämte, was sie aber auch wütend machte -, einen Knicks vor mir. »Willst dir wohl die Hände nicht schmutzig machen mit richtiger Arbeit oder dem Haushalt. Du bist genau wie Lingerl. Ich frage mich wirklich, wie eine solche Prinzessin dort so alt werden konnte, so ganz, ohne verwöhnt zu werden. Hat sie den Kopf schräg gelegt und mit den Wimpern geklimpert, bis die Aufseher oder die anderen Gefangenen ihr das eigene Brot gegeben haben? Madame Butterfly ist tot. Es wird Zeit, daß du lernst, was richtige Arbeit ist.«
    Da stieg die größte Wut in mir auf, die ich in meinem Leben je empfunden habe. Ich gab ihr eine Ohrfeige und schrie sie an: »Wenn die Leute sich um meine Mutter gekümmert haben, dann deshalb, weil sie sie mit Liebe belohnte. Und aus dir machen sie sich nichts, weil du einfach abscheulich bist.«
    Sie starrte mich einen Augenblick mit offenem Mund an. Allerdings fing sie sich schnell wieder und versetzte mir ihrerseits einen so heftigen Schlag, daß meine Lippe von ihrem großen Ring aufplatzte. Und dann fauchte sie mich an: »Ich hab' dich das Stipendium für die Schule nur annehmen lassen, weil ich davon ausgegangen bin, daß du dich für meine Großzügigkeit revanchierst, indem du dich um Victor kümmerst. Und ich muß dir wohl nicht sagen, daß du das nicht getan hast. Statt ihm seinen Tee zu machen, treibst du dich in den Kneipen und Tanzsälen herum wie deine Mutter. Max oder Carl oder einer von den anderen Einwandererjungen wird dir irgendwann noch das gleiche schenken wie Martin - so hat er sich jedenfalls selbst genannt -damals Madame Butterfly. Gleich morgen früh gehe ich zu deiner Schulleiterin, deiner geliebten Miss Skeffing, und sage ihr, daß du deine Ausbildung nicht fortsetzen kannst. Es wird allmählich Zeit, daß du dich hier nützlich machst.«
    Mit blutigem Gesicht rannte ich völlig durcheinander durch halb London zu der Jugendherberge, in der meine Freunde wohnten - du weißt schon, Max und Carl und die anderen. Sie waren im Jahr zuvor sechzehn geworden und hatten nicht mehr in ihren Pflegefamilien bleiben können. Ich flehte sie an, mir für die Nacht irgendein Bett zu besorgen. Am nächsten Morgen, als Minna in ihrer geliebten Handschuhfabrik war, schlich ich mich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher