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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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E s war nur dieser eine Satz, eine das Lokal unserer Verabredung abwertende Bemerkung, so schwerwiegend wie beiläufig von ihm als Feststellung seiner Freundin lediglich weitergegeben – sie wußte aus Erzählungen, wo wir uns seit Jahren mit gewisser Regelmäßigkeit trafen: »Dieses Café ist das Café der Übriggebliebenen.« Bei einem kürzlichen Zufallsbesuch hätte sie das zweifelsfrei erkannt – und bei der Gelegenheit die identifikatorische Fangfrage ›Wo gehst du noch hin, wenn du ausgehst?‹ für meinen Fall gleich mit beantwortet: Ja, deinen alten Freund, den sieht man dort öfter, der verkehrt in diesem Café der Übriggebliebenen.
    Eine doch etwas peinliche Einschätzung, die ich erst mal schweigend durchbuchstabieren mußte. Ein Übriggebliebener – aber wonach, wovon, wobei? Beim Kehraus einer großen Party? Nach einer Damenwahl oder dem Mauerfall? Nach einer kleinen Revolution? Der Verteilung der besseren Tribünenplätze? Oder hatte sie einen schwer vermittelbaren Rest Menschen gesehen, unbrauchbar, untätig, übrig eben und wieder zu haben? Wenn Thomas Leisers Lebensgefährtin mit ihrer Feststellung richtig läge, säße mit mir nahezu täglich ein Übriggebliebener in diesem Café – kein schönes Gefühl, aber, aufs Ganze gesehen, auch kein völlig unbekanntes. Durchaus denkbar, daß die von ihr gefundene, halbwegs originelle Formulierung ihn vor allem im beziehungssymmetrischen Sinn befriedigte: Also bitte, was die Fähigkeit angeht, sich zutreffend und scharf auszudrücken, kann meine Freundin ohne weiteres mithalten. Genau dies hatte ich bei früherer Gelegenheit mit der einen oder anderen Anspielung angezweifelt, so daß er vermuten konnte, ich würde seine Freundin intellektuell nur bedingt für die passende Partnerin halten.
    Im Grunde hätte ich diesen provozierenden Caféhaussatz sofort als abwegig zurückweisen müssen – aber meine Schlagfertigkeit ließ in solchen Gesprächen neuerdings öfter auf sich warten. Außerdem kannten wir beide uns so gut, daß ich genau wußte, wie Leiser die offenbar von ihm geteilte Einschätzung verstanden haben wollte. Vorwurfsvoll natürlich, als ein ansonsten schweigend übergangenes Thema, auch wegen seines Unverständnisses dafür, daß ich noch immer die – vornehm ausgedrückt – gastronomische Option nutzte, noch immer die nomadenhafte Häuslichkeit dem geordneten Leben in den heimischen vier Wänden vorzog. Fand er nicht gut, fand er gar nicht gut. Er hielt die notorische Kneipengängerei für eine überkommene Gewohnheit, sinnlos, ja gar ausreichend für den Anfangsverdacht von moralischer Verwahrlosung – selbst wenn die Besuche einem trockenen Zeitungscafé galten.
     
    Das Café Fler als Ort der Übriggebliebenen – eine Fehleinschätzung, im Trüben gefischt, hatte ich nur kurz widersprochen, »mit schönem Gruß« an seine Freundin zu Haus.
     
    Dieses Café lag in einem einst bewegten, heute gastronomisch verkümmernden Viertel, ein unverändert belassenes Szenecafé im nüchtern hellen New-Wave-Stil der frühen achtziger Jahre, von japanischen Reiseführern als besuchenswertes Weltkulturerbe empfohlen. Seit einer Weile schon litt es unter neuen konkurrierenden Formen – wie der Doppelstrategie kleiner, sich vermehrender Geschäfte in der Nachbarschaft, die neben feinen Schokoladen, griechischer Feinkost oder tausend Teesorten auch ein Sitz-Eckchen mit zwei, drei Tischen und entsprechendem Caféhaus-Service anboten. Selbst am Spätnachmittag herrschte wenig Betrieb, so daß jeder der nach und nach eintretenden Stammgäste seinen kleinen, auch von uns beachteten Auftritt hatte. Drei, bald vier Männer in den Vierzigern oder bereits Fünfzigern nahmen jeweils allein an einem Einzeltisch Platz und begannen ihr rituelles Abend-Solo, unbemuttert und ohne den letzten Schliff im Auftreten – die Art ihres Alleinseins wirkte auf ebenfalls anwesende Melancholiegefährdete höchstwahrscheinlich melancholisierend. Gemeinsam mit den Späterkommenden würden sie in diesem Raum über Stunden nebeneinanderher lesend sitzenbleiben und sich mit Zeitungen, Zeitschriften oder Büchern auf einen nur durch geistige Getränke erleichterten Lektüremarathon begeben. Männer mit Drang in die Einsamkeit, die sich für ganze Abende sonstigen sozialen Zusammenhängen entzogen, die sich möglicherweise hier aufhielten, um Schlimmerem anderswo zu entkommen. Unter ihnen zu sein, schloß eine gewisse Ansteckungsgefahr ein und warf Fragen nach dem Motiv jedes
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