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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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einzelnen, den Gründen seines Verhaltens auf, die unbeantwortet blieben. Ich hatte nichts gegen diese Männer, ich kannte sie kaum – wir teilten einen Raum, oberflächlich betrachtet, mehr nicht. Keiner von ihnen konnte mich nur annähernd so beeindrucken wie Leiser. Sein erstes Buch hatte er mir vor zwanzig Jahren vor die Füße geworfen: So mein Freund, sagte er keß – jetzt hab ich eine Rippe mehr.
     
    Mein Leben sollte damals wie auch in der Folgezeit ohne eine anatomisch vergleichbare Stärkung verlaufen. Ebensowenig war es mir seither gelungen, einen häuslichen oder familiären Lebensstil hinzubekommen. Leiser wußte das alles, kannte meine über Jahrzehnte ambulante Form der Existenz. Wenn also jemand die auch andernorts mögliche Assoziation von einem Café der Übriggebliebenen hervorgerufen haben mochte, dann konnte es eigentlich bloß ich gewesen sein – schließlich kannten er und seine Freundin von den hier Anwesenden nur mich. Und ich war veranlagungsgemäß jederzeit bereit, dunklere Charakterisierungen zuzulassen: nirgendwo hingelangt, nirgendwo dabei, ein Niemandsmann, eingedreht in eine eschersche Selbstbezichtigungsspirale ohne Anfang oder Ende, festgesessen in immergleichen Cafés, die immergleichen alten Stories mit den immergleichen rebellischen Zuspitzungen auf der Zunge, mehr oder weniger erledigt, übriggeblieben eben, tja, ein Mangel an Ernsthaftigkeit, an Dynamik, an Veränderungsbereitschaft, tja, an Ideen letztendlich, versteht sich.
     
    Der Wirt hier gibt mir Rabatt, hatte ich gesagt, ich zahl nur die Hälfte.
    Du könntest jeden Morgen eine Stunde früher aufstehen, sagte Leiser.
    Verzichten aufs lächerliche Feierabendbierchen, klar. Aber das Bier, sagte einer, der’s wissen mußte, unser Bier, das sind die Mütter – wir kehren immer zu ihnen zurück.
    Eine merkwürdige Analogie, sagte er.
    Hab ich irgendwo gelesen, ein Zitat aus deinen lyrischen Gefilden … Gottfried Benn … saß nur zwei Straßen weiter jeden Abend beim »Würzburger Pils«.
    Trotzdem Blödsinn.
    Schuldgefühle hab ich auch so schon mehr als genug.
     
    Was sagten wir in früheren Jahren so schön defätistisch über unseren allabendlichen Kneipengang? Einsamkeit als Gruppenerlebnis. Und das zu Zeiten, als wir in großer Zahl beieinander waren, als das Gefühl des Zusammenhangs noch existierte. Einsamkeit als Gruppenerlebnis? Ein Spruch, der heute, ein Vierteljahrhundert später, viel eher zutraf, angesichts eines werweißwie zusammengewürfelten, kontaktscheu-coolen Publikums, allesamt Virtuosen der Distanz. Eine einstmals vitale Tätigkeit war Ritual geworden und ich – ich gab den Tresenleser, den scheinbar Unterforderten, den unbekannten Märtyrer des Müßiggangs. Einer, der sich in unveränderter Manier ins Caféhaus setzte, sich voll bewußt der schläfrigen Ekstase überlassen konnte, die erstbesten Eindrücke aufnahm und wiedergab, ohne Berechnung oder Träumerei, einer, der sich wie ein Dressman in Wechseljahren ins Lokal stellte und das bißchen Adrenalin abbaute, das ihm seine anscheinend gleichförmig verlaufenden Tage bescherten. Ein alt gewordenes, vielleicht schicksalhaftes Hobby, das nur mit Verachtung überwunden werden konnte, einer Verachtung, die in meinem fast in den Falten verschwundenden Gesicht jederzeit erkennbar war.
     
    Aber demnächst kommt hier ein Defibrillator rein, ganz dezent gehängt, gleich hinterm Zigarettenautomaten, hatte ich gesagt – das wär dann das erste Lokal mit so ’nem Ding, hallo Leute, kommt ins Café Herzanfall, wir sind auf alles vorbereitet, und bei uns seid ihr sicherer als zu Haus.
     
    Häuften sich solche schnoddrigen Äußerungen meinerseits, verlor unser Gespräch an Fahrt und Charme. Leiser konnte sich aufs unangenehmste abwenden, indem er mit starrem Gesicht überlang schwieg und aus dem Fenster schaute – ein Moment, den ich fürchtete, denn schon im nächsten Augenblick würde er mit ersten raffenden Griffen nach dem auf der Sitzbank liegenden Mantel das Ende des Treffens anstreben, sein Mißfallen unwiderruflich, die Freundschaft für unbestimmte Zeit annulliert sein. Seine Aufmerksamkeit, vermutlich auch seine Sympathie blieben zumindest in unserer Konstellation nur erhalten, wenn klare Erlebnisse durch ebenso klare Schilderungen wiedergegeben wurden, möglichst lebhaft, mit möglichst überraschendem Perspektivwechsel, samt wirklichkeitsgetreu nachgesprochenen, durch Betonung charakterisierenden Zitaten beteiligter Personen. Das
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