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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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kaschieren. Womöglich hatte irgend jemand ihm gesagt, Mensch Junge, trink die Hälfte und alles wird gut. Na ja, Marotten, Zierleisten der Persönlichkeit … und seine Schrulle ließ beim interessierten Beobachter zig Deutungen zu. Sie ginge auch als Zerstreutheit durch, als Hang zum Leben aus dem Vollen, aus dem wunderbarerweise immer wieder Vollen – sie könnte der Verhaltensrest eines einstigen Sturztrinkers sein, der heute nur noch schnell bestellt, aber nicht mehr ganz so schnell trinkt. Ebenso könnte sie eine gewisse Großzügigkeit offenbaren, oder auch das Gegenteil, die Existenzängste eines gequälten Meisters der Selbstisolation, der hier blicklos, wortlos und reaktionslos gegenüber der Umgebung seine Stunden verbrachte, die Prime Time, wie sich in seinem Fall sagen ließe. Er arbeitete für einen der großen privaten Fernsehkonzerne – in wichtiger Funktion, als Formatentwickler nämlich, wie ihm einmal mein Lieblingstresennachbar und Allesrauskrieger Paul entlockt hatte. Aber welche Formate der Entwickler auch immer entwickelt haben mochte – ertragen konnte er sie offenbar nicht. Sein Aufenthalt hier während der besten Sendezeit bewahrte ihn davor, die von ihm verantworteten Fernsehprogramme im feierabendlichen Heim mitansehen zu müssen.
     
    Na ja, unsere Zerstreuungsindustrie, Fernsehkucken … das wär ja nix anderes als dauernd Tränen in Herzform in die Augen zu kriegen … so hatte Leiser diese Fler-Personalie sinngemäß kommentiert, da wär’s für einen Fernsehmacher das Beste, sich ohne ein Wort über seinen Job in einem halbleeren Café vollaufen zu lassen, um so über seine ständige, sich jeden Tag erneuernde Schmach hinwegzukommen.
    Fernsehen wäre ja nach Kant auch nur eine Form der ungeselligen Geselligkeit, sagte ich.
     
    Im nachhinein fiel mir auf, daß meine hochgestochene Bemerkung von Leiser als Verschleierung einer verschämten Neigung zu diesem Medium gedeutet werden konnte. Er interessierte sich nicht dafür, kein Thema, in keiner Hinsicht. Anders bei mir, dem fast zehn unwirkliche Jahre Älteren. Für mich gehörte das Fernsehen zu den Wundern der Kindheit, die vor den eigenen Augen aus dem Nichts aufgestiegen waren und daher niemals ganz verblaßten. Und auch wenn der Mann mit den halbvollen Gläsern diesen Kinderglauben nicht stärkte, sondern eher den unglücklichen Zustand seiner Arbeitswelt offenbarte, durfte er meiner Aufmerksamkeit sicher sein.
     
    Leiser wollte über einen hier real vorhandenen, ansonsten jedoch im internationalen virtuellen Scheiß herumstochernden Formatfinder nichts wissen. Auch nicht über weitere, noch nicht anwesende Stammgäste wie die zwei Psychotherapeuten und den Finanzchef der Stiftung einer unserer staatstragenden Parteien, einen sehr angenehmen, offenbar naturberuhigten Spätleser, der gelegentlich seine buchhalterischen Bilanzausdrucke mitbrachte und sie meterlang über dem Tisch ausfaltete. Leiser schien mittlerweile klar, daß ich nur einmal mehr meine Caféhaushockerei rechtfertigte, dabei mit allerlei interessantgeredeten Beobachtungen aufwartete, um zu sagen: Also bitte, in diesem Lokal verkehren Gäste, die man auf den ersten Blick verkennt und die doch zu den, wie es so schön heißt, gesellschaftlich relevanten Gruppen und Berufszweigen gehören …
     
    Und andere Einschätzungen, mein lieber Thomas, würden einfach nicht zutreffen … tatsächlich leben diese Leute in der notorisch penetrant und paranormal hochgelobten Mitte der Gesellschaft, wahrscheinlich mittiger als du und ich, und die Abweichungen vom ortsüblichen Feierabendverhalten stellen keine grundsätzliche Gefahr für ihren Status dar. Der eine, gut, extremes Beispiel, braucht eben seine elf, zwölf Biere, um einer unerklärten Verzweiflung zu entkommen, was er auch schafft, bis er sich um Mitternacht zufrieden und ohne sichtbare Veränderung auf den Weg nach Hause macht – der andere, ein Noch-Ehemann und Vater, hält es abends daheim atmosphärisch nicht aus und wird das Café erst dann verlassen, wenn er sicher ist, daß seine Familie bereits in den Betten liegt … über die genaueren Gründe ihres Kummers läßt sich in der Manier alter, schon immer sinnloser Kneipensoziologie nur spekulieren. Den Mann mit dem sinnentleerten TV -Sender im Nacken tröstet wenigstens eine gelegentlich auftauchende, modelschöne asiatische Freundin, der Samurai dürfte von Vergleichbarem lediglich träumen – denn laut seinem altjapanischen Tugendkatalog (Hagakure)
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