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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid
Autoren: Felix Thijssen
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I
     
    Wohlmeinende Freunde hatten mich vor der sterbenslangweiligen Eintönigkeit des Landlebens gewarnt, doch meine Umzugskisten waren noch nicht ausgepackt, als die Ruhe bereits von den Schreien einer Frau empfindlich gestört wurde, die direkt vor meiner Tür in jenem Fluss zu ertrinken drohte, den mir mein Makler als den schönsten der Niederlande angepriesen hatte.
    Ich war gerade dabei zu beobachten, was der blühende Lavendel entlang des Gartenweges direkt unterhalb meiner Terrasse so alles anlockte: orangefarbene, braune und weiße Schmetterlinge, diverse Bienen, eine mir unbekannte Art nachtblauer Hummeln sowie ein rötliches, unwirkliches Geschöpf, das wie ein Kolibri in der Luft stand und mit einem haarfeinen Schnabel in den Blumen herumpickte. Eben wollte ich eine Liste der Dinge aufstellen, die hier schöner beziehungsweise weniger schön waren als in Amsterdam, als plötzlich alles, was summte, flatterte und nachdachte, durch das Geschrei aufgeschreckt wurde.
    Ich rannte um das Haus herum und den Deich hinauf. Die Frau hing über der Wasseroberfläche, die Hände um einen dicken Weidenast geklammert, die Zehenspitzen auf dem Rand eines Bootes. Das Ganze wirkte wie eine Szene aus Fix & Foxi, nur dass die Frau zum Anbeißen aussah, was man von Tante Eusebia ja nicht gerade behaupten kann.
    Der Deichabhang war glitschig und sumpfig, das Gras hoch und nass. Das Wasser quietschte mir schon in den Schuhen, bevor ich das Ufer erreichte. Die Frau schrie unaufhörlich, sie berührte mit dem Bauch das Wasser, der Ast knackte. Sie hatte einen strohblonden Pferde- schwänz, ein vor Aufregung gerötetes Gesicht und trug weiße Tennisshorts. Einer ihrer Wadenmuskeln wölbte sich wie ein zum Platzen gespannter Tennisball unter der braunen Haut ihres nackten Beines. Ihr Boot musste auf Grund gelaufen sein, und vermutlich hatte sie sich an dem Ast abstoßen wollen und nicht rechtzeitig losgelassen. Ich fragte mich, warum sie sich nicht einfach ins Wasser fallen ließ und ans Ufer schwamm.
    »Ist ja schon gut!«, rief ich. »Die Rettung naht!«
    Sie hörte auf zu schreien. Meine Schuhe sanken tief im schlammigen Grund des stillstehenden Wassers hinter der Reihe von Pfählen ein, die man am Fluss entlang in den Boden getrieben hatte, um eine Abtragung des Ufers zu verhindern. Ich stieg über die Pfähle, stand sofort bis zur Hüfte im Wasser, schob eine Hand unter ihren Bauch und versuchte mit der anderen, ihren Fuß über den Rand des Bootes zu heben. In dem Moment stieß sie einen Schmerzensschrei aus, ließ den Ast los und ging unter.
    Ich war triefend nass, bis ich sie richtig zu fassen kriegte und sie über die Pfähle hieven und ans Ufer schleppen konnte. Ihr herrenloses Boot trieb bis zur Mitte des Flusses und verschwand dann auf eigene Faust in Richtung Brücke.
    »Mein Bein«, stöhnte sie, als ich sie absetzte.
    Ein Wadenkrampf. Fuß flach auf den Boden, und mit dem vollen Körpergewicht darauf stützen. Doch der Untergrund war zu weich. Ich legte ihren Arm um meine Schultern, und sie hinkte neben mir her zu der flachen kleinen Bucht an der Grenze zu meinem Grundstück, wo sich ein halbverrotteter Anlegesteg befand, inklusive des lecken Ruderbootes, das im Preis des Hauses inbegriffen war. »Belaste deinen Fuß«, sagte ich, als sie tropfend auf den ausgeblichenen Planken stand.
    Ich ging auf die Knie und knetete und massierte die verkrampfte Wade. Ihrem Fuß und ihrem Knöchel fehlte nichts. Ihre Haut war glatt und gesund. Sie stützte sich mit einer Hand auf meinem Kopf ab, und ich zog die Spitze ihres Sportschuhs nach oben. »Besser?«
    »Ja.« Sie zitterte.
    Sie hielt meinen Arm mit beiden Händen umklammert, als sie den Abhang erklomm und auf der anderen Seite des Deichs über meine Hauseinfahrt wieder hinunterhinkte. Die Häuser hier hatten alle Eingangstüren, die direkt zum Deich hin lagen, doch kaum einer benutzte sie je. In der Regel ging man hinten herum, über die Terrasse und zur Glasschiebetür hinein.
    »Jetzt müssen wir dich erst mal wieder trocken kriegen«, sagte ich und lotste sie vorbei an meinem Schreibtisch, den ich direkt hinter der Fensterfront aufgestellt hatte, in die zum Wohnzimmer umgebaute ehemalige Tenne hinein. Alle Zimmer meines Deichhauses lagen auf verschiedenen Ebenen, und mein Makler hatte den Charme dieser »abenteuerlichen Art zu wohnen« besonders hervorgehoben. Überhaupt hatte er sich ungeheuer viel Mühe gegeben, da er nicht nur mein Makler, sondern auch mein
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