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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Nein, ich brauchte ihn nicht daran erinnern, daß er von der alten Clique mit einer Menge Erlebnisse versorgt worden war, die er an seinen Schreibtisch mitnehmen durfte. Daß er als junger Dichter undercover mehrere Frauen aus Winterfeldtkneipen hinauskomplimentiert hatte, aus deren Leib und Leben sich Stoff für mindestens zwei seiner Bücher gewinnen ließ. Und daß auch er einem gewissen Drang nach Interessantmacherei nachgab und im Suff ganz gern den starken Mann machte – nicht unbedingt am richtigen Ort, wie in der Rockerkneipe Bei Peter, wo er eines Morgens um sechs ein großes Bier über den blanken Tresen ausgoß, weil er ein kleines bestellt zu haben behauptete. So schnell war er noch nirgendwo rausgeflogen, an Hals und Kragen gepackt und auf die Straße geschleudert – nach einem freundlichen Hinweis des zurückkehrenden Barmanns folgte ich freiwillig. Draußen saß ein anderer Gast mit blutverschmiertem Gesicht an einen Baum gelehnt und röchelte noch immer – auf den hatte ich dich schon beim Reingehen hingewiesen, mein Freund, und dann machst du so’n Zirkus. Gut, war lange her, heute als Mittfünfziger würde er so etwas nicht mehr machen.
     
    Wenn ich heute an diesen längst umgestalteten Orten wie dem Café Mitropa vorüberging, kam mir der Gedanke an »die große Zeit« eher selten. Sich in Lokalen aufzuhalten galt mir dennoch nach wie vor als Alternative zum Familienprogramm. Selbst wenn es immer wieder Cafés gegeben hat, mit denen man – anfangs heftig verliebt – leider bald darauf verheiratet war.
     
    Daß wir uns zwei, auch drei Mal im Jahr trafen, war ein letztes freundschaftliches Ritual. Es würden nie wieder mehr werden als diese zwei, drei Stunden, die wir, stets auf seinen Vorschlag hin, »in deinem Café da« verbrachten, um uns gegenseitig auf den jeweiligen Stand der Dinge zu bringen. Das hieß in erster Linie, viel über meine Probleme zu sprechen, Probleme der Arbeit, des Geldes und der Liebe, so wie eh und je. Über die Frau, mit der er zusammenlebte, sagte er nichts Genaueres, genausowenig übers Geldverdienen oder das meiste, was er darüber hinaus so trieb. Und wie es um seine Arbeit bestellt war, konnte ich den wiederkehrenden Lobeshymnen der überregionalen Zeitungen entnehmen, die zerlesen und unordentlich, aber komplett hier auf der Fensterbank im Café auslagen.
     

D ie große Zeit – Ende der Siebziger, Anfang achtzig in Berlin? Glaubte Leiser das wirklich? Könnte das nicht bereits zehn Jahre früher der Fall gewesen sein? Um achtundsechzig herum war er dreizehn oder vierzehn und noch zu Hause in einer kleinen Stadt … während von mir anderswo dies und das mitgegründet wurde. Vielleicht hatte er trotzdem recht mit seiner Einschätzung dieser Zeit, »unserer großen Zeit«, wie er sie öfter nannte.
     
    Schon beeindruckend, die ersten Momente in dieser Stadt, der freie, kilometerweit reichende Blick beim Hineinfahren von Norden her … Ein tatsächlich großer Moment, vom Theodor-Heuß-Platz entlang der Sichtachse die Straßen bis zum Brandenburger Tor geradeaus runterkucken zu können, die historische Großzügigkeit des Ganzen, seine verpflichtende Dimension zu erfassen … Das hatte jene metropolitane Tiefe, in der das Ende der Straßen im Sommer unscharf am Horizont zu flimmern beginnt und hinter dem Flimmern die Stadt unendlich weitergehen mochte, wie in New York oder Athen und nirgends sonst in Deutschland. Der Blick verhieß Besonderes und ließ mich für mehr als einen Moment in andächtiger Ergriffenheit staunen – ein seltenes Gefühl, und geschichtsvergessen dazu nach Stunden ärgerlicher Transitschleicherei durch die DDR -Landschaft.
     
    Bereits damals wiederholten sich die Dinge. Wieder einmal war ich in eine neue Stadt gezogen, und wieder einmal, vordergründig betrachtet, wegen einer Frau – Katja, die Schöne … Schönste meines Lebens, die kluge Katja, die bei meinem Anruf an jenem Ankunftstag in ein um Sekunden zu langes, womöglich ungläubiges Schweigen fiel. Sie lebte seit ein paar Monaten hier, weil sie eines morgens in Hamburg die Zulassungsbescheide gleich zweier Unis bekam und in mein verliebt gespanntes Lauern hinein sagte: Berlin, ganz klar Berlin, tut mir leid. Seitdem fanden wir in zwei Städten statt und wollten wieder eine daraus machen. Der Versuch einer Paarwerdung, die immer gleiche Phantasie also, die mich reizte und hierhergelockt hatte – ja, und dann war ich da, oben, am Ende der Heerstraße.
     
    Später am Abend,
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