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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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würde er, wenn er mit realer weiblicher Unterwäsche auch nur in Berührung kommt, augenblicklich die Macht des Kriegers verlieren.
     
    Soviel fürs erste zu den Übriggebliebenen hier, hatte ich gesagt.
    Und du bist wahrscheinlich einer der leitenden Gäste, erwiderte Leiser – gestatten, Doktor Müller-Tralala, Professor der Gastronomie.
     
    Seit er sich vor langen Jahren die Kneipengängerei von einem Tag zum anderen abgewöhnt hatte, fiel Leiser der Aufenthalt in Lokalen mehr als schwer – die schlechte Luft, verstehst du, und diese abgestandene Popmusik, nee. Das war früher mal ganz anders gewesen. In der Straße, in der das Fler lag, hatten wir uns kennengelernt und nahezu jeden Abend mit schlechter Luft und gealterter Popmusik in einem Café namens Mitropa verbracht, gut hundert Meter von hier entfernt – zu Beginn der Achtziger, die Leiser heute, halbwegs ernstgemeint, »die große Zeit« nannte. Wie bei jedem Treffen streiften wir für ein Viertelstündchen die gemeinsame Vergangenheit, amüsierten uns über einige Personen und Persönchen; Gesichter, Orte und Anekdoten kamen noch einmal zur Sprache, und dank Leisers präziser Erinnerung sogar mancher der in sommermatter Caféhausstimmung gefallenen Sätze, in seinem Gedächtnis auch nach einem Vierteljahrhundert noch wörtlich abrufbar, von ihren Urhebern sicher längst vergessen.
     
    Als uns seinerzeit eine ihm und mir bekannte Frau im Mitropa zusammenbrachte, hatte er sich allerdings mit längerem Schweigen eingeführt. Schwer zu sagen, was sie und ihn verband, ob sie ihre Probiernacht schon hinter sich hatten – aus Gewohnheit taxierte ich zuallererst den erotischen Gehalt solcher neu auf mich zu kommender Konstellationen. Die Blikke, die Gesten zwischen den beiden, alles blieb diskret, was einen versuchten Versuch höchstens erahnen ließ – womöglich auch wegen des Umstandes, daß ich dieselbe Frau bereits einige Wochen länger als er kannte. Nach unserem dialogisch ausgereiften, meinerseits absichtslosen Kennlernflirt war sie bereits am nächsten Mittag unverabredet an meiner Wohnungstür erschienen, mit über Nacht gerettetem, absichtsvollen Schwung … so klingelt eine Frau nur einmal – und ich war nicht zu Hause. Ein paar Tage später war die Luft raus und einer Freundschaft stand nichts mehr im Wege. An jenem Abend im Mitropa ermunterte sie Leiser mehrmals … nun sag ihm doch, was du machst … Er wollte es nicht sagen – nicht in diesem Café voller hochambitionierter Künstlerkandidaten. Erst als die Verweigerung lächerlich zu werden drohte, erklärte er sich. Er arbeitete damals schon an seiner zusätzlichen Rippe, klar. Nur wie stark und stabilisierend sie werden würde, war in dieser »großen Zeit« noch nicht zu ahnen.
     
    Lange her, hatte ich gesagt, als wir uns an diesem Begriff für eine Weile festredeten, alles lange her.
     
    Und … was machen die Frauen?
    Das fragte Leiser immer dann, wenn das Pflichtprogramm erledigt war und er zum gemütlichen Teil kommen wollte.
    Gute Frage, sagte ich, ja … ja, ich hab da schon was im Auge, eine leicht verunsicherte blonde Mittvierzigerin … sitzt sehr spät dort drüben am Ecktisch und schreibt in ihr Notizbuch … das große Mitternachtsheft einer Blondine …
    Klingt gut, aber Blondine … ist prätentiös, als Begriff zu belastet, kann man eigentlich nicht mehr sagen.
    Vielleicht nicht sagen, aber denken … allerdings haben ein paar französische Wissenschaftler mittels Intelligenztests herausgefunden, daß Männer beim Anblick blonder Frauen unbewußt ihre Hirntätigkeit senken … ein Phänomen, im Fachjargon heißt es »Anpassung an das vermutete Niveau des Gegenübers« …
    Du liest immer noch diesen Zeitungsquatsch, sagte Leiser – sprich die Frau doch einfach an …
    Ja, ja klar – da scheinen jedenfalls Kapazitäten frei zu sein …
     
    Seit einigen Jahren lebte er mit Freundin am Rande der Stadt, in einem östlichen Vorort, mit viel frischer Luft und abgestandenem Kadermuff ringsum – ein ziemlich abstinentes Leben, bis auf das Glas Sylvestersekt. Eigentlich kein Grund, mir das Caféhaussitzen anzukreiden, bei jedem Rauchwölkchen aufzustöhnen und mir beim zweiten, spätestens dritten Bier angestrengte Blicke zuzuwerfen. Sollte ich ihn etwa daran erinnern, daß er in der »großen Zeit« zur Trinkgruppe Winterfeldtplatz gehört hatte? Mit am Verschwörerstammtisch saß, bis er eines Tages in einen anderen Stadtteil zog und in lebenslängliche Klausur ging?
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