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Der Nazi & der Friseur

Der Nazi & der Friseur

Titel: Der Nazi & der Friseur
Autoren: Edgar Hilsenrath
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1.
    Ich bin Max Schulz, unehelicher, wenn auch rein arischer Sohn der Minna Schulz ... zur Zeit meiner Geburt Dienstmädchen im Hause des jüdischen Pelzhändlers Abramowitz. An meiner rein arischen Herkunft ist nicht zu zweifeln, da der Stammbaum meiner Mutter, also der Minna Schulz, zwar nicht bis zur Schlacht im Teutoburger Walde, aber immerhin bis zu Friedrich dem Großen verfolgt werden kann. Wer mein Vater war, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber er war bestimmt einer von den fünfen: der Fleischer Hubert Nagler, der Schlossermeister Franz Heinrich Wieland, der Maurergehilfe Hans Huber, der Kutscher Wilhelm Hopfenstange oder der Hausdiener Adalbert Hennemann.
    Ich habe die Stammbäume meiner fünf Väter sorgfältig prüfen lassen, und ich versichere Ihnen, daß die arische Herkunft der fünf einwandfrei festgestellt wurde. Was den Hausdiener Adalbert Hennemann anbetrifft ... da kann ich sogar mit Stolz sagen, daß einer seiner Vorfahren den Spitznamen ›Hagen der Schlüsselträger‹ trug, ein Knappe des ruhmreichen Rit ters Siegismund von der Weide, dem sein Herr und Gebieter als Zeichen seines großen Vertrauens einen bestimmten Schlüssel anvertraute ... nämlich: den Schlüssel des Keuschheitsgürtels seiner Frau Gemahlin ... ein vergoldeter Keuschheitsgürtel, der später amHofe des großen Königs berühmt wurde und Geschichte machen sollte.
    Itzig Finkelstein wohnte im Nachbarhaus. Er war genauso alt wie ich oder ... um genauer zu sein, und wenn ich mich so ausdrücken darf: Itzig Finkelstein erblickte das Licht der Welt genau zwei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden nachdem mich die Hebam me Gretchen Fettwanst mit einem kräftigen Ruck aus dem dunklen Schoß meiner Mutter befreite ... wenn man mein Leben als Befreiung bezeichnen kann, was ... schließlich und endlich ... ziemlich fragwürdig wurde.
    Zwei Tage, nachdem Itzig Finkelstein zur Welt kam, stand folgende Anzeige in der »Jüdischen Rundschau« unserer Stadt ... der schlesischen Stadt Wieshalle:
    »Ich, Chaim Finkelstein, Friseur, Besitzer des einge führten Friseursalons ›Der Herr von Welt‹, Ecke Goethe- und Schillerstraße, Wieshalle, Vorstand im ›Jüdischen Kegelklub‹, stellvertretender Generalsekretär der Jüdischen Kultusgemeinde‹, Mitglied des ›Deutschen Tierschutzvereins‹, des Vereins der ›Pflanzenfreunde ‹, der Liga ›Liebe deinen Nächsten‹ und der ›Wieshaller Friseurinnung‹, Verfasser der Broschüre ›Haarschnitt ohne Treppen‹, ... erlaube mir, die Geburt meines Sohnes und Nachfolgers ›Itzig Finkelstein bekanntzugeben.«
    Am nächsten Tag erschien eine zweite Anzeige in der »Jüdischen Rundschau« mit nachfolgendem Wortlaut: »Wir, die Jüdische Kultusgemeinde von Wieshalle, sind glücklich, dem Herrn Friseur Chaim Finkelstein, Besit zer des eingeführten Friseursalons ›Der Herr von Welt‹, Ecke Goethe- und Schillerstraße, Vorstand im Jüdi schen Kegelklub‹, stellvertretender Generalsekretär der Jüdischen Kultusgemeinde‹, Mitglied des ›Deutschen Tierschutzvereins‹, des Vereins der ›Pflanzenfreunde‹, der Liga ›Liebe deinen Nächsten‹ und der ›Wieshaller Friseurinnung‹, Verfasser der Broschüre ›Haarschnitt ohne Treppen‹, zur Geburt seines Sohnes und Nachfol gers ›Itzig Finkelstein herzlich zu gratulieren.«
    Können Sie sich vorstellen, was Hilda ... die dürre Hilda ... das Dienstmädchen der Finkelsteins ... zu Frau Finkelstein sagte, als die Geburtsanzeige des klei nen Itzig in der »Jüdischen Rundschau« von Wieshalle erschien?
    »Frau Finkelstein«, sagte sie, »so was versteh' ich nicht. Ihre Ehe war zwar mehr als zwanzig Jahre kinderlos, aber diese Geburtsanzeige von dem kleinen Itzig, das ist ein bißchen zuviel! Der Herr Finkelstein ist doch sonst kein Angeber. War doch immer so bescheiden!«
    Die dürre Hilda: zwei Meter lang, zwei Meter dürr, Vogelgesicht, pechschwarzes Haar.
    Sara Finkelstein: klein und rundlich, Zwicker auf der Nase, angegrauter Haarkranz, obwohl sie noch gar nicht alt war. Sah ein bißchen verstaubt aus, so wie die ehrwürdigen Familienbilder in Finkelsteins altmodischem Wohnzimmer. Chaim Finkelstein: noch kleiner als seine Frau, aber nicht rundlich. Ein winziges, mage res Männchen ... linke Schulter etwas schief, als hätten sich 2000 Jahre Exil, 2000 Jahre Leid, an diese eine Schulter gehängt. An die linke Schulter, die Schulter, die dem Herzen am nächsten steht. - Chaim Finkelsteins Nase ist schwer zu
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