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Winters Knochen

Winters Knochen

Titel: Winters Knochen
Autoren: D Woodrell
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R EE DOLLY STAND bei Tagesanbruch auf den kalten Stufen ihres Hauses, roch drohendes Schneetreiben und sah Fleisch. Es baumelte an Bäumen auf der anderen Seite des Bachs. Die Kadaver hingen blasshäutig und vor Fett glänzend neben drei windschiefen, verhärmten Häusern, die geduckt nebeneinander am hinteren Ufer standen. Mit Seilen waren zwei oder mehr gehäutete Tiere an den durchhängenden Ästen festgemacht, Wild, das für zwei Tage und drei Nächte draußen hing, damit der erste Hauch der Verwesung den Geschmack verbesserte und das Fleisch an den Knochen weicher werden ließ.
    Schneewolken hatten den Horizont verdrängt und bedeckten dunkel das Tal, es wehte ein rauer Wind, und das aufgehängte Fleisch drehte sich an den schwankenden Ästen. Ree, brünett, sechzehn, mit milchweißer Haut und überraschend grünen Augen, stand mit nackten Armen in einem flatternden vergilbten Kleid da, hielt das Gesicht in den Wind, bis ihre Wangen rot wurden, so als habe sie eine Ohrfeige bekommen und dann noch eine. Sie war groß in ihren Kampfstiefeln, schmal in der Taille, aber kräftig an Armen und Schultern, ein Körper, der dazu geschaffen war, dem Nötigsten hinterherzuspringen. Sie roch die frostige Feuchtigkeit in den drohenden Wolken, dachte an ihre dunkle Küche, den leeren Vorratsschrank,sah zu dem niedrigen Holzstoß hinüber und zitterte. Das heraufziehende Wetter hieß, dass draußen aufgehängte Wäsche zu Brettern gefrieren würde, also musste sie in der Küche über dem Holzofen Wäscheleinen spannen. Allerdings würde der magere Stapel Holz für den Kanonenofen gerade langen, um Moms Unterwäsche und ein paar T-Shirts der Jungs zu trocknen. Ree wusste, es gab kein Benzin mehr für die Säge, also würde sie hinterm Haus die Axt schwingen müssen, während der Winter ins Tal fegte und über sie hereinbrach.
    Jessup, ihr Vater, hatte kein Holz gestapelt, auch kein Holz für den Kanonenofen gespalten, bevor er vom steil abfallenden Hof zu seinem blauen Capri hinuntergegangen und dann auf dem zerfurchten Weg davongefahren war. Er hatte keine Essensvorräte besorgt, kein Geld dagelassen, aber versprochen, sobald wie möglich mit einer Tüte Geld und einem Kofferraum voller schöner Sachen zurückzukommen. Jessup war ein verstohlener Mann mit gebrochener Miene, der gern mit flehenden Worten alles Mögliche versprach, nur um durch die Tür verschwinden zu können oder nach seiner Rückkehr um Verzeihung zu bitten.
    Die Walnüsse fielen gerade, als Ree ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sie pochten nachts auf den Boden wie die heimlichen Schritte eines mächtigen Wesens, das man nie zu Gesicht bekam, und Jessup war sorgenvoll die Veranda auf und ab geschlurft und hatte mit seiner krummen Nase geschnieft, das spitze Kinn von einem Bart umwölkt, der Blick unsicher, aufgeschreckt von jeder einzelnendumpf aufkommenden Nuss. Die Dunkelheit und das Pochen schienen ihnen nervös zu machen. Er wanderte auf und ab, bis er eine Entscheidung gefällt hatte, dann ging er die Stufen hinunter und verschwand rasch in der Nacht, bevor er es sich anders überlegen konnte. »Sucht erst nach mir, wenn ihr mein Gesicht seht«, hatte er gesagt. »Bis dahin braucht ihr euch keine Sorgen zu machen.«
    Ree hörte die Tür hinter sich quietschen. Harold, acht, dunkel und schlank, stand in blassen langen Unterhosen da, hielt den Türknauf fest, stieg von einem Bein aufs andere. Er reckte das Kinn und deutete zu den Fleischbäumen auf der anderen Seite des Bachs.
    »Vielleicht bringt uns Blond Milton heute Abend was zu essen vorbei.«
    »Könnte sein.«
    »Sollten Verwandte das nicht tun?«
    »So heißt es.«
    »Wir könnten ja fragen.«
    Ree sah Harold mit seinem schnellen Lächeln an, sein schwarzes Haar flatterte im Wind. Dann schnappte sie sich das nächstbeste Ohr und drehte daran, bis er den Mund aufsperrte und die Hand erhob, um damit nach ihrer Hand zu schlagen. Ree drehte noch fester, bis er den Schmerz nicht mehr aushielt und zu schlagen aufhörte.
    »Niemals. Niemals bittest du um was, was einem freiwillig angeboten werden sollte.«
    »Mir ist kalt«, sagte Harold. Er rieb sich sein schmerzendes Ohr. »Haben wir nur noch Grütze?«
    »Mach mehr Butter dran. Irgendwo haben wir noch ein Stückchen Butter.«
    Harold hielt die Tür auf, und die beiden gingen hinein.
    »Nein, haben wir nicht.«

MOM SASS IN IHREM STUHL am Kanonenofen, während die Jungs am Tisch saßen und aßen, was Ree ihnen gab. Moms Morgenpillen verwandelten sie in
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