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Engel sterben

Engel sterben

Titel: Engel sterben
Autoren: Eva Ehley
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Prolog
Das Haus am Watt
    In all ihren Grüntönen erstreckt sich die bucklige Sylter Heide zwischen Braderup und Kampen. Im Westen wird sie vom Golfplatz und einigen Weideflächen begrenzt, im Osten führt sie bis hinunter zu dem schlickigen Strand am Watt. Silbergrau schimmert dort das Wasser zwischen Insel und Festland, wo man im glasigen Dunst einige Windräder ahnen kann. Es ist schon Abend, blaue Stunde. Auf der Braderuper Seite der Heide schmücken einzelne Friesenhäuser wie hingetupft eine schmale Stichstraße. Der Asphalt ist noch aufgeheizt von der Sonne des Tages, es hat seit Wochen nicht geregnet. Da weder Autos noch Fußgänger zu sehen sind, wirkt die Straße wie ausgestorben. Trocken, dürr, tot. Doch plötzlich öffnet sich eine der blau-weiß gestrichenen Friesentüren.
    Eine junge Frau tritt heraus. Sie trägt einen unfrohen Ausdruck im Gesicht, der sich aufhellt, als sie beginnt, eine Melodie vor sich hin zu summen. Noch bevor die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen ist, hat sie die leichte Weste zugeknöpft und ein Paar Latexhandschuhe übergestreift. Gleich darauf sind ihre Hände in den Westentaschen verschwunden. Sie will nicht aussehen wie ein Killer auf Urlaub.
    Ihr Wohnhaus ist eines der letzten vor dem Braderuper Watt. Nach einhundertundachtzehn Schritten – die junge Frau hat den Zwang, ihre Schritte zu zählen, noch nie unterdrücken können – verlässt sie die schmale Straße, die zu dem Parkplatz am Beginn des Naturschutzgebietes führt, und biegt in den Heideweg ein. Hier kann man quer durch die duftende Landschaft bis hinauf nach Kampen wandern. Nach einigen Minuten kommt ihr die alte Overbeck mit ihrem übergewichtigen Setter entgegen. Die Alte hat den Körper aus jahrzehntelanger Gewohnheit weit nach vorn gebeugt, als liefe sie gegen einen Sturm an.
    »Guten Abend, Frau Overbeck, ganz schön schwül heute, was.«
    »Moin, Karoline. Hundswetter.«
    Schon ist sie vorbei, immer im Gleichschritt mit dem keuchenden Tier. Wenig später taucht an der Kante zum Watt Wilhelmsen mit seiner Dogge auf. Karoline weiß, dass die anderen drei Hundebesitzer ihre Runde schon gedreht haben, denn ihr Fernglas ist ausgezeichnet. Und das Dachzimmer ihres Friesenhauses bietet nach Norden einen ungehinderten Blick über Heide und Watt. Alle Bauten zwischen Braderup und Kampen, die etwas erhöht stehen, lassen sich von dort aus hervorragend beobachten – vor allem das Haus am Watt, zu dem Karoline jetzt unterwegs ist. Ihre Hüfte schmerzt bei jedem Schritt. Würde sie hinken, wie sonst immer, wäre der Schmerz zu ertragen. Aber man würde ihre Fußspuren auf dem sandigen Weg erkennen können. Das wäre zwar gut für die Hüfte, aber schlecht für ihr Vorhaben.
    Wilhelmsen grüßt gar nicht. Er tut einfach so, als sähe er sie nicht. Karolines Mutter hat ihm vor Jahren einen nicht ganz echten Stich verkauft. Ganz so blöd, wie sie dachte, war der Mann aber doch nicht. Er machte Ärger, bis die Mutter schließlich vorgab, selbst betrogen worden zu sein, und den Druck zurücknahm. Seitdem guckt Wilhelmsen in die Luft, wenn er Sigrid Noeltes Tochter begegnet. Vor der Mutter hat er zusätzlich ausgespuckt. Immerhin, das bleibt Karoline erspart.
    Ein ganz leichter Windhauch kommt von vorn, die Luft riecht feucht und salzig und muffig zugleich. Karoline keucht leise vor Anstrengung. Die Stufen der Holzbohlentreppe scheinen seit gestern Abend höher geworden zu sein, jeder Schritt ist ein Stich in ihre Hüfte. Karoline krallt sich am Geländer fest und hält auf jeder zweiten Stufe inne, damit der Schmerz abklingen kann. Ein unerkannter Bruch der Hüfte in der Kindheit, der schlecht verheilt ist, sagen die Ärzte. Irgendwann um ihren zehnten Geburtstag herum setzten die Schmerzen ein. Es dauerte Jahre, bis Karoline dem Großvater davon erzählte. Die Mutter war ohnehin selten zu Hause. Der Antiquitätenhandel boomte, und Sigrid Noelte profitierte davon. Ihre Tochter wusste sie bei dem eigenen Vater gut aufgehoben, er liebte die Enkelin mit Hingabe und machte sich schon lange nichts mehr aus dem Handel mit alten Bildern, Porzellan und Besteck, der seit zwei Generationen in der Familie üblich war. »Sigrid und ihr Trödel«, pflegte er zu sagen, obwohl er genau wusste, dass es sich meistens um echte und eher selten um nicht ganz so echte Wertstücke handelte. »Lass deine Mutter das mal machen, liebe Line«, pflegte er die Enkelin zu besänftigen, wenn sie nach der abwesenden Mutter fragte. »Sie braucht
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