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Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name
Autoren: Sara Paretsky
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außer Oma und Opa, die sie über alles liebten und sagten, sie solle das Baby zu ihnen bringen.
    Sofie liebte Martin auf ihre Weise, und er verehrte sie wie alle in meiner Welt. Jedenfalls glaube ich, daß das so war. Bitte widersprich mir jetzt nicht und wiederhole auch nicht die Worte von Cousine Minna: Hure, Flittchen, läufige Hündin, all diese Worte habe ich mir acht Jahre lang in London anhören müssen.
    Vier Jahre nach mir kam Hugo. Vier Jahre nach ihm kamen die Nazis. Und wir zogen alle auf die Insel. Wahrscheinlich hast du sie auf der Suche nach mir gesehen, die Überreste der engen Wohnungen in der Leopoldsgasse.
    Meine Mutter wurde dünn und verlor ihren Glanz. Wer hätte sich denn in einer solchen Zeit auch bewahren können? Aber für mich als Kind... Ich dachte, wenn ich die ganze Zeit bei ihr bin, schenkt sie mir ihre Aufmerksamkeit. Ich begriff einfach nicht, warum plötzlich alles so anders war, warum sie nicht mehr sang und tanzte. Sie hörte auf, Ling-Ling zu sein, und wurde Sofie. Dann wurde sie wieder schwanger und war krank, als ich nach England abreiste, zu krank, um vom Bett aufzustehen. Aber nun beschloß sie, meinen Vater zu heiraten. All die Jahre hatte sie es geliebt, Lingerl Herschel zu sein, zu ihren Eltern zu gehen, wenn sie sich nach ihrem alten Leben in der Renngasse sehnte, und auf die Insel und zu Martin zurückzukehren, wenn sie ihn brauchte. Doch als die eiserne Faust der Nationalsozialisten sie alle ergriff, Herschels wie Radbukas gleichermaßen, und sie alle im Getto zusammenpferchte, heiratete sie Martin. Vielleicht tat sie es für seine Mutter, weil wir bei ihr wohnten. So wurde aus meiner Mutter für kurze Zeit Sofie Radbuka.
    In meiner Kindheit in der Renngasse war ich, obwohl ich mir wünschte, daß meine Mutter immer bei mir bliebe, ein von allen geliebtes Kind. Meinen Großeltern machte es nichts aus, daß ich klein und dunkel war wie Martin und nicht blond und schön wie ihre Tochter. Sie waren stolz auf meinen Verstand, darauf, daß ich in der Schule immer die Beste oder Zweitbeste wurde. Sogar für Martin empfanden sie so etwas wie herablassende Zuneigung.
    Aber für seine Eltern schämten sie sich. Als sie ihre Zehn-Zimmer-Wohnung in der Renngasse aufgeben und zu den Radbukas ziehen mußten, führte sich meine Oma auf, als habe man sie gezwungen, fortan in einem Kuhstall zu leben. Sie distanzierte sich von allen und sprach Martins Mutter immer mit »Sie«, niemals mit »du« an. Und ich wollte, daß Oma Herschel mich weiterhin am meisten liebte, denn ich brauchte diese Liebe. Wir waren so viele auf so engem Raum, da brauchte ich jemanden, der sich um mich kümmerte. Sofie hatte genug mit sich selbst zu tun. Sie war schwanger und krank, nicht gewöhnt an Entbehrungen. Und sie mußte sich die Gehässigkeiten der Radbuka-Cousinen und -Tanten gefallen lassen, die der Meinung waren, daß sie ihren Liebling Martin - Moische - all die Jahre schlecht behandelt hatte.
    Das führte dazu, daß ich grob zu meiner anderen Großmutter war. Wenn ich höbe, meiner Großmutter Radbuka, die Zuneigung entgegenbrachte, die sie sich von mir wünschte, schob meine Oma mich weg. An dem Morgen, an dem Hugo und ich nach England abreisten, sehnte sich meine bobe, meine Großmutter Radbuka, nach einem Kuß von mir, aber ich machte nur einen Knicks. Ich schluckte die Tränen hinunter, die in mir hochstiegen. Du, Victoria, reichtest mir eine Flasche Wasser, ohne etwas zu sagen. Wenn du mich berührt hättest, hätte ich dir eine Ohrfeige gegeben, doch dein Wasser nahm ich und trank es.
    Zehn Jahre später, als ich in jenem heißen Sommer feststellte, daß ich von Carl schwanger war, wurde plötzlich alles dunkel in meinem Kopf. Meine Mutter. Meine Oma - meine Großmutter Herschel. Meine hohe - meine Großmutter Radbuka. Ich glaubte, ich könnte das, was ich ihr angetan hatte, wiedergutmachen. Ich dachte, wenn ich ihren Namen verwende, vergibt sie mir. Aber ihren Vornamen kannte ich nicht. Ich kannte den Vornamen meiner Großmutter nicht. Nacht für Nacht sah ich, wie sie ihre dünnen Arme nach mir ausstreckte, um sich mit einem Kuß von mir zu verabschieden. Nacht für Nacht sah ich meinen verlegenen Knicks und wußte, daß meine Oma mich dabei beobachtete. Aber egal, wie viele Nächte ich diese Szene durchspielte, ich konnte mich nicht an den Vornamen meiner hohe erinnern. Also nahm ich den meiner Mutter. Eine Abtreibung kam nicht in Frage. Das war Claires erster Vorschlag gewesen. 1944, als
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