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Ihr wahrer Name

Ihr wahrer Name

Titel: Ihr wahrer Name
Autoren: Sara Paretsky
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hereinfallen. Wahrscheinlich war es der Alptraum dieser Familie, daß jemand wie ich von den Toten auferstand und sein Zuhause von ihnen zurückverlangte.
    Danach zwang ich mich, in die Leopoldsgasse zu gehen, doch viele der verfallenen alten Häuser waren verschwunden, und obwohl ich wußte, nach welcher Kreuzung ich suchen mußte, war dort nichts mehr vertraut. Mein zeyde, mein orthodoxer Großvater, war mit mir eines Morgens durch dieses Labyrinth zu einem Straßenhändler gegangen, der Schinken verkaufte. Dort tauschte mein zeyde seinen Mantel gegen einen Pergamentbogen voll dünngeschnittenem fettigem Fleisch ein. Er selbst rührte es nicht an, aber seine Enkel brauchten Protein; wir sollten nicht verhungern, weil wir uns an die Kaschrut-Regeln hielten. Wie meine Cousinen aß ich die rosafarbenen Scheiben mit Genuß, aber auch mit Schuldgefühlen. Sein Mantel ernährte uns drei Tage lang. Ich versuchte, dieser Strecke zu folgen, landete jedoch am Kanal, wo ich so lange in das schmutzige Wasser starrte, daß ein Polizist zu mir trat, um sicher zu sein, daß ich nicht hineinspringen wollte.
    Dann mietete ich einen Wagen und fuhr in die Berge, hinauf zu dem alten Bauernhaus am Kleinsee. Nicht einmal das erkannte ich mehr. Die ganze Gegend dort ist jetzt ein Erholungsgebiet. Der Ort, an den wir jeden Sommer fuhren, wo wir spazierengingen, ritten, von meiner Großmutter Botanikunterricht erhielten, an den Abenden sangen und tanzten, wo meine Herschel-Cousinen und ich auf den Stufen saßen und ins Wohnzimmer lugten, wo meine Mutter, der goldene Schmetterling, stets die Aufmerksamkeit aller auf sich zog - jetzt standen auf den Wiesen teure Villen, Geschäfte und ein Skilift. Ich konnte das Haus meines Großvaters nicht einmal mehr finden. Ich weiß nicht, ob es abgerissen oder in eine der schwerbewachten Villen verwandelt wurde, die ich von der Straße aus nicht sehen konnte.
    Und so fuhr ich schließlich in Richtung Osten. Wenn ich keine Spuren des Lebens meiner Mutter und meiner Großmütter finden konnte, mußte ich eben ihre Gräber besuchen. Langsam, ganz langsam, so langsam, daß andere Fahrer mich beschimpften - sie hielten mich wegen meines Mietwagens für eine reiche Österreicherin. Aber irgendwann entdeckte ich den Ort doch. Ich stieg aus dem Wagen. Setzte meinen Weg zu Fuß fort, folgte den Schildern in unterschiedlichen Sprachen.
    Ich weiß, daß Menschen an mir vorbeigingen, denn ich spürte ihre Schatten. Manche blieben stehen und sprachen mit mir. Worte flogen an mir vorbei, Worte in verschiedenen Sprachen, aber ich verstand keines davon. Ich starrte die Gebäude am Fuß des Hügels an, die verfallenen Reste des letzten Zu-hauses meiner Mutter. Ich hatte keine Worte mehr, keine Gefühle, kein Bewußtsein. Deshalb merkte ich auch nicht, wann du zu mir tratst und dich im Schneidersitz neben mich setztest. Als du meine Hand berührtest, hielt ich dich für meine Mutter, die endlich Anspruch auf mich erhob. Als ich mich umdrehte, um sie zu umarmen, war meine Enttäuschung unbeschreiblich.
    »Du!« Ich preßte das Wort hervor und gab mir keine Mühe, meine Bitterkeit zu verbergen. »Ja«, sagtest du, »nicht die, die du gesucht hast, aber trotzdem hier.« Und du weigertest dich zu gehen, bevor ich gehen würde, nahmst eine Jacke und legtest sie mir um die Schultern. Ich versuchte es mit Ironie. »Du bist wirklich die perfekte Detektivin, spürst mich sogar gegen meinen Willen auf.« Aber du sagtest nichts, also mußte ich nachbohren, fragen, welche Hinweise dich zu mir geführt hatten.
    »Die Mitteilungsblätter vom Royal Free. Du hast sie auf dem Schreibtisch in deinem Büro gelassen. Ich habe den Namen von Dr. Tallmadge erkannt und mich daran erinnert, daß du dich an dem Abend bei Max mit Carl über sie gestritten hast. Ich bin nach London geflogen und habe sie in Highgate besucht.«
    Ach ja, Ciaire. Die mich vor der Handschuhfabrik rettete. Sie rettete und rettete und rettete mich, und dann ließ sie mich fallen wie einen alten Handschuh. All die Jahre, all die Jahre dachte ich, es sei aus Mißbilligung gewesen, aber jetzt begreife ich, daß der Grund... Mir fiel kein Wort dafür ein. Lügen, vielleicht.
    Carl wurde immer so wütend. Ich nahm ihn mehrere Male zum Tee bei den Tallmadges mit, aber er verachtete sie so sehr, daß er sich irgendwann weigerte mitzugehen. Ich war so stolz auf sie alle, auf Ciaire und Vanessa und Mrs. Tallmadge und ihr Crown-Derby-Teeservice im Garten, aber er fand, daß sie
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