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Ich war seine kleine Prinzessin

Ich war seine kleine Prinzessin

Titel: Ich war seine kleine Prinzessin
Autoren: Nelly
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Streitgespräche
sollten dem Zuschauer verdeutlichen, wie unterschiedlich die Reaktionen auf das
Thema Kindesmißbrauch waren. Michel Roubaud, der Anwalt meines Vaters,
erinnerte in seinem ausgezeichneten Beitrag daran, daß mein Vater die Tat
gestanden habe und die Vergewaltigung daher nicht zu leugnen sei. Und er fügte
hinzu, mein Vater habe das Gerichtsurteil angenommen: »Die Strafe, die ihm
auferlegt wurde, muß auch dazu dienen, Nellys Würde wiederherzustellen, und
zwar im Hinblick auf all jene, die der Ansicht sind, ihr Vater sei zu solch
einem Vergehen nicht fähig.«
    Dann gab Michel Roubaud etwas bekannt,
das tiefes, betroffenes Schweigen auslöste. Mein Vater war als Fünfjähriger
selbst mißbraucht worden. Von einem Mitglied der Familie. Auch er hatte damals
geschwiegen, hatte nicht den Mut gehabt, sich seiner Mutter anzuvertrauen. Wie
Kinder, die geschlagen werden, später ihre eigenen Kinder verprügeln, so hatte
mein Vater, der mit fünf Jahren vergewaltigt worden war, mich vergewaltigt, als
ich zwölf war. Ein Teufelskreis, eine infernalische Kette von Verbrechen.
    Papa hatte erst sein eigenes Leben und
dann meins verpfuscht, weil er als Kind mißbraucht worden und nie darüber
hinweggekommen war. Statt alles aus sich herauszubefördern, sich davon zu
befreien, hatte er es tief in seinem Inneren vergraben.
    »Begreifst du jetzt, wie wichtig es
ist, den Mund aufzumachen?« wandte sich meine Mutter an Großmutter Mireille.
»Nur wenn darüber geredet wird, kann der Kreis durchbrochen werden.« Nach einer
Weile antwortete Großmutter leise: »Ja, jetzt ist mir das klar.«
    Dann kamen zwei Experten zu Wort. Beide
waren als Therapeuten im Pariser Zentrum für Familienberatung in
Buttes-Chaumont tätig. Martine Fadier-Nisse sagte: »Wir werden in unserer
Praxis häufig mit Fällen wie diesem hier konfrontiert. Zuweilen reicht die
Kette von Sexualdelikten an Kindern innerhalb der Familie über mehrere
Generationen, sie geht sozusagen von einer Generation zur nächsten über. Keiner
dieser Fälle wurde therapeutisch behandelt. Das Kind, das Opfer des Mißbrauchs
wurde, ist nicht als solches anerkannt worden. Man hat ihm den Status des
Vergewaltigungsopfers verweigert. Das Besondere, das Neue im Fall von Nellys
Familie ist, daß Nelly den Mut hatte, öffentlich über ihre leidvollen
Erfahrungen zu sprechen.«
    Die zweite Therapeutin, Frédérique
Gruyer, fügte hinzu: »Die erste Frage in so einem Fall muß lauten: Ist
Strafantrag gestellt worden? Denn bei Kindesmißbrauch, um es noch einmal
deutlich zu sagen, handelt es sich um ein Verbrechen. Familiäre Verhältnisse,
wie Nelly sie beschrieben hat, nennen wir familiäre Diktatur. Mutter und Vater
sind depressiv. Also nimmt Nelly anstelle der Erwachsenen die
    Dinge selbst in die Hand, und die
Erwachsenen vergessen, daß sie noch ein Kind ist. Sie sehen in ihr einen
anderen Erwachsenen.«
    Und weil viele in mir eine Erwachsene
sahen, suchten sie in gutem Glauben die Verantwortung bei mir und gaben mir die
Schuld an den Vorfällen. In ihren Augen war ich eine Frau, kein kleines Mädchen
mehr, während mein Vater, der Sohn des Ortes, für sie das Kind war, der
empfindsame kleine Junge, dem man fast alles nachsieht.
    Nun kam Laure zu Wort, ein junges
Mädchen, das ebenfalls vom Vater vergewaltigt worden war. Ihre Geschichte glich
meiner. Sie war der Liebling ihres Vaters, und sie liebte ihn abgöttisch. Auch
sie hatte sich gefragt: Ist das normal, was er mit mir macht? Auch sie hatte
sich aus Angst und Scham niemandem anvertraut, hatte stillgehalten, wenn ihr
Vater sie zum Geschlechtsverkehr zwang. Eines Tages überraschte ihre kleine
Schwester sie und den Vater im Bett. So kam die ganze Sache heraus. Nachdem der
Vater verhaftet worden war, begannen die Leute zu reden: Laure habe
geschwiegen, weil sie damit einverstanden war.
    In ihrer Stimme, in ihren Augen, in
ihren Worten erkannte ich mich wieder. Ihre Geschichte bewies, daß ich die Wahrheit
gesagt hatte, daß mein Fall kein Einzelfall war. Der sexuelle Mißbrauch von
Kindern durch Familienangehörige läuft immer nach dem gleichen Schema ab. — Danke,
Laure, daß du deine Geschichte in »Mea culpa« erzählt hast!
    Zum Schluß äußerte sich die Kinderpsychiaterin
Dr. Catherine Bonnet. Sie erklärte, weshalb es mir nicht möglich gewesen war,
über das, was mein Vater mit mir machte, zu sprechen. »Ein Kind im Alter von
zehn, zwölf, fünfzehn Jahren erwartet Zuneigung und Zärtlichkeit von
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