Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich war seine kleine Prinzessin

Ich war seine kleine Prinzessin

Titel: Ich war seine kleine Prinzessin
Autoren: Nelly
Vom Netzwerk:
Zeitung
veröffentlichte folgenden Artikel über mich: »Wie schafft man es, seine
Jungfräulichkeit absolut wasserdicht wiederherzustellen? Richtig! Durch einen
Fernsehauftritt. Das Vergewaltigungsopfer als Jungfrau von Orléans! Das muß man
gesehen haben! [...] Ach, wie viele junge Mädchen werden nach dieser Sendung in
TF1 davon träumen, von der Großmutter oder vom großen bösen Wolf oder von
irgend jemandem sonst vergewaltigt zu werden, um wenigstens einmal im Leben im
Fernsehen auftreten zu können!«
    Als liefe alles, was ich durchgemacht
hatte, darauf hinaus! In diesem Artikel wurde ich von neuem zur kleinen
Schlampe, die sich im Fernsehen prostituiert, herabgewürdigt. Früher hätte ich
über soviel Gehässigkeit geweint. Aber ich war stärker geworden. Es gab
wichtigere Dinge.
    Täglich erleiden Tausende von Kindern,
Mädchen und Jungen, in ganz Frankreich das gleiche Schicksal wie ich. Auch
ihretwegen bin ich vor die Kameras getreten. Und ich bin stolz darauf. Aber
während ich wenigstens einen Teil meiner Probleme lösen konnte (meine Isolation
durchbrechen, mich mitteilen, meine Scham- und Schuldgefühle bewältigen),
leiden diese Kinder weiter im verborgenen. Vielleicht findet das eine oder
andere den Mut, den ich damals nicht hatte: den Mut zu reden. Und ich hoffe,
vielen Menschen, Müttern, Lehrern, Erziehern, aber auch Vätern, ist
klargeworden, daß der sexuelle Mißbrauch von Kindern mit all seinen
komplizierten, leider oft nicht erkannten Mechanismen etwas Abscheuliches und
zugleich Alltägliches ist. Wenn es mir gelungen ist, das zu verdeutlichen, ist
mein Martyrium wenigstens nicht ganz umsonst gewesen.

Brief an
meinen Vater im Gefängnis
     
     
     
    Papa,
    wir haben lange nichts voneinander
gehört. Daß alles so gekommen ist, ist Deine Schuld. Vier Jahre sind seit den
Ereignissen damals vergangen. Vor einem Jahr fand der Prozeß statt. Ich bin
inzwischen sechzehn. Und Du mußt noch weitere vier Jahre im Gefängnis bleiben.
Was für eine Zeitverschwendung, findest Du nicht?
    Vielleicht hast Du gehofft, Mamas Leben
zu zerstören, indem Du mich kaputtmachst. Aber es hat nicht geklappt, Papa. Wir
sind beide noch einmal davongekommen, sie und ich. Und wir haben festgestellt,
daß es auch ohne Dich geht. Wir haben die Dinge selbst in die Hand genommen.
Heute führen wir unser eigenes Leben.
    Wir haben eine schwere Zeit hinter uns.
Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie schwer. Wahrscheinlich ist es für Dich
im Gefängnis einfacher gewesen als für uns draußen. Aber wir haben gekämpft,
alle beide, und wir haben es geschafft. Ich glaube, Du würdest mich nicht
wiedererkennen. Ich bin nicht mehr das zarte kleine Mädchen, mit dem Du machen
konntest, was Du wolltest. Ich bin nicht mehr die kleine Nelly, die Deine
Märchen von Romeo und Julia geglaubt hat. Das unschuldige kleine Ding, das Du
vergewaltigt hast. Ich bin älter geworden.
    Eine »kleine Frau« hast Du mich früher
genannt. Das trifft heute schon eher zu. Aber ich bin kein Objekt, kein
Spielzeug mehr für Papa. Ich bin eine junge Frau, die leben will, die leben
will um jeden Preis. Eines Tages werde ich heiraten. Aber nicht Dich, Papa. So
eine hirnverbrannte Idee. Ich werde einen Jungen heiraten, der mich liebt.
Kinder möchte ich, glaube ich, keine. Ich würde zuviel Angst haben, daß ihnen
das gleiche passiert wie mir. Deshalb möchte ich lieber keine.
    Ich bin nicht mehr das verstörte Ding,
das ich nach meiner Entlassung aus dem Heim war. Es hat sich eine Menge
geändert seitdem. Damals habe ich mich viel zu stark geschminkt, zuviel
Schwarz, zuviel Rot aufgetragen. Heute brauche ich mich nicht mehr unter einer
dicken Schicht Make-up zu verstecken. Ich schäme mich meiner nicht mehr. Damals
wollte ich mir selber und den anderen etwas vormachen, deshalb die ganze
Schminke. Ich wollte sie übertünchen, verschwinden lassen, die Nelly, die Du,
mein eigener Vater, mißbraucht hattest. Ich schämte mich entsetzlich. So sehr,
daß ich sterben wollte. Heute male ich mich nicht mehr an. Meine Geschichte ist
mir nicht mehr peinlich. Ich kann darüber reden. Bis auf einige wenige Dinge,
von denen nur wir zwei, Du und ich, wissen. Häßliche, schreckliche Dinge, die
aber völlig bedeutungslos sind. Über alles andere kann ich sprechen. Mich
trifft keine Schuld an der ganzen Sache. Das habe ich auch im Fernsehen gesagt.
Es mußte sein. Das hat mir ungemein geholfen. Es hat mich geheilt.
    Sogar mein Gesicht hat sich verändert.
Ich bin nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher