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Ich war seine kleine Prinzessin

Ich war seine kleine Prinzessin

Titel: Ich war seine kleine Prinzessin
Autoren: Nelly
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redete mir ein, meine Mutter hätte mich nicht
mehr lieb.«
    »Wie erklären Sie sich das Verhalten
Ihres Vaters?« Erklären? Erklären konnte ich es nicht. »Mit zwölf stellt man
sich keine Fragen«, antwortete ich. »Man nimmt die Dinge als gegeben hin und
hält sie für ganz normal. Es gibt ja keine Bücher, in denen man nachschlagen,
nichts, was man zum Vergleich heranziehen könnte. Außerdem wollte ich auf
keinen Fall die Liebe meines Vaters verlieren. Er bedeutete mir mehr als alles
auf der Welt.«
    Die Kamera war auf mein Gesicht
gerichtet. Ich war bis ins Innerste aufgewühlt. Es tat unbeschreiblich weh,
über diese Dinge zu sprechen, aber ich schaffte es. Zum erstenmal brachte ich
über die Lippen, was ich noch niemandem, nicht einmal Mama, an vertraut hatte.
Ich spürte, wie der Knoten in meinem Bauch sich allmählich löste. Patrick hörte
mir zu, schenkte mir seine ganze Aufmerksamkeit, ging auf mich ein. Ich hatte
befürchtet, daß ich vielleicht irgendwann anfangen würde zu weinen, aber ich
blieb stark. Patrick war sichtlich bewegt. Behutsam fragte er weiter, und jede
Frage brachte uns ein Stück voran.
    »War Ihre Mutter zu Hause, während Sie
von Ihrem Vater mißbraucht wurden?« »Ja, aber sie befand sich in Behandlung,
sie mußte Medikamente einnehmen und schlief praktisch die ganze Zeit.«
    Ich berichtete, wie ich abends in aller
Eile meine Schularbeiten gemacht und mich dann schleunigst in mein Zimmer
geflüchtet hatte, um Papa zu entkommen. Wie er mir nachgestellt und mich
bedrängt hatte.
    »Ich war machtlos. Wie hätte ich mich
gegen ihn zur Wehr setzen sollen? Ich konnte nichts dagegen tun. Am einen Tag
war ich noch ein kleines Kind und am nächsten eine junge Frau. Mir blieb keine
Zeit, meine Kindheit zu genießen. Mir blieb keine Zeit, die Veränderungen an
meinem Körper zu beobachten, den Vorgang des Heranwachsens bewußt
wahrzunehmen.«
    Ich sagte die Dinge so, wie ich sie
empfand. Ich wußte, daß Tausende vor dem Bildschirm sitzen und mich sehen
würden, aber das machte mir keine angst. Im Gegenteil, an sie wandte ich mich
ja, sie sollten wissen, was geschehen war und wie sehr ich darunter gelitten
hatte. Sie würden mir zuhören, und, da war ich mir sicher, sie würden mir
glauben, genauso wie Patrick und die Zuschauer hier im Studio. Das Gesicht
einer Fünfzehnjährigen im Fernsehen lügt nicht. Und da ich wußte, sie hörten
mir zu und respektierten mich, sprach ich ganz offen: zum Beispiel über meine
anfänglichen Bedenken, meinen Vater zu verklagen und möglicherweise ins
Gefängnis zu bringen. Oder über all die Dinge, die ich aufgrund dessen, was er
mir angetan hatte, nie würde erleben können. Ich erklärte auch, daß er nie
Gewalt gegen mich angewendet, mich nie geschlagen habe, aber: »Es sind die
seelischen Prügel, die Spuren hinterlassen haben.« Und ich bekannte: »Über
vieles, die Vergewaltigung an sich zum Beispiel, kann ich bis heute noch nicht
sprechen.«
    Ich beschrieb die kleine Nelly, wie sie
auf Bäume geklettert war und mit ihren Puppen gespielt hatte. Ich erzählte von
Papas Heiratsplänen mit seiner Tochter, von meiner Musiklehrerin, die Verdacht
schöpfte, weil ich mich so verändert hatte, nicht mehr singen wollte, nur noch
weinte. Ich schilderte den Abend, an dem die Gendarmen vor unserer Tür standen
und ich meinen Vater noch verteidigte. Dann die Zeit im Heim: »Mir war es
völlig unbegreiflich, daß man mich im Heim unterbrachte, während mein Vater als
freier Mann draußen herumspazierte.« Meine Selbstmordversuche: »Ich hatte
wirklich den Wunsch zu sterben.«
    Ich äußerte mich auch zu den Folgen:
die zerbrochene Familie, mein gestörtes Verhältnis zu Jungs... Dann lächelte
ich. »Heute bin ich der Meinung, es ist sinnvoller zu kämpfen, anstatt sich das
Leben zu nehmen.«
    Danach kam ich auf die Gerüchte zu
sprechen, die über mich verbreitet wurden: »Ich sei schuld an der ganzen Sache,
hieß es plötzlich. Das Gerücht kam auf und machte die Runde.
    Das ist auch der Grund, weshalb ich
heute hier bin: weil ich zeigen möchte, daß das einfach nicht wahr ist.« Ich
redete ungefähr zwanzig Minuten, frei von der Leber weg. Ich staunte über mich
selbst.
    Anschließend wurde die Reportage
eingespielt. »Wir haben zahlreiche Einwohner des Dorfes befragt«, erklärte der
Moderator, »und viele sind der Ansicht, Nelly hätte schweigen sollen. Sie
suchen die Schuld bei ihr und nicht bei ihrem Vater. Hören Sie selbst, wie sich
einige der Befragten
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