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Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Titel: Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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hatte.
    Deshalb hatte sie am 7. März 1941, über zwei Monate nach seinem Tod, an mich geschrieben: Novemberbrief angekommen, danke! Können hoffentlich bald kommen. Geburtstagsgrüße. Bleib tapfer. Papa geht es nicht gut. Denke immer an Dich, voller Sehnsucht.
    Am 16. Juni 1941 wurde meine Mutter von einem befreundeten deutschen Arzt gewarnt: Alle Juden in Berlin sollten in den sicheren Tod geschickt werden. Da färbte sie sich die Haare rot, besorgte sich gefälschte Papiere auf den arischen Namen Frau Dr. Clara Hübner und bezog unter diesem Namen ein neues Quartier.
    Nachdem sie sich dort eingerichtet hatte, ließ sie die Eltern meines Vaters nachkommen: Konrad, ein freundlicher, achtzigjähriger Arzt, und seine Frau, meine Stiefgroßmutter Hulda, fünfundsiebzig Jahre alt.
    Im Juni 1942 wurden sie jedoch von der SS abgeholt und vor den Augen meiner Mutter wie Vieh in einen vergitterten Lastwagen getrieben.
    »Nehmen Sie doch etwas Rücksicht auf diese alten Menschen«, hatte meine Mutter die SS -Männer angeschrien, doch diese hatten nur gelacht und waren mit meinen Großeltern – ihren Gefangenen und ihrer Beute – davonge-fahren.
    Meine Großeltern wurden nach Theresienstadt gebracht, dem Konzentrationslager für Juden ab fünfundsechzig, wo sie trotz ihrer Alterschwäche und ihrer Gebrechlichkeit vergast und anschließend verbrannt wurden.
    Aber verbrannt wurden sie erst, nachdem man ihnen die Goldzähne herausgerissen hatte, die verkauft wurden, um die Kassen der Wehrmacht zu füllen.
    Nachdem meine Mutter miterleben musste, wie meine Großeltern weggeholt wurden, und erfuhr, welch ein Schicksal ihnen bevorstand, grausamer als alles, was man sich vorstellen konnte, war es ihr einziger Trost zu wissen, dass mein Vater das Ende seiner Eltern nicht mehr miterleben musste.
    Sie aber kannte deren Schicksal in allen unfassbaren Einzelheiten und lebte fortan mit diesem schmerzlichen Wissen, genau wie auch ich es bis heute tun muss.
    Sophie und Rosalie, meine beiden Großtanten, die Schwestern meiner Großmutter – zwei zarte, empfindsame und elegante alte Damen –, nahmen dasselbe grauenhafte Ende wie meine Großeltern.
    Sie wurden 1943 in Auschwitz ermordet, nur deshalb, weil sie als Jüdinnen geboren worden waren. Rosalie wurde siebenundsiebzig, Sophie dreiundachtzig Jahre alt.
    Was meine anderen Verwandten betraf, so erfuhr ich, dass Suse Schild, eine meiner Cousinen, am 14. September 1943 nach Auschwitz deportiert wurde, wo Dr. Mengele sie im Rahmen seiner Experimente operierte – wie üblich ohne Narkose.
    Sie war damals siebenundzwanzig!
    Sie hat zwar überlebt, musste aber für den Rest ihres Lebens im Rollstuhl sitzen.
    Sie war eines von Hitlers Opfern, die überlebt hatten. Sie war der Hölle entkommen und auch hinterher ein erstaunlich fröhlicher Mensch.
    Zumindest nach außen hin. Aber wer weiß, welche grauenvollen Erinnerungen sie des Nachts überfielen und durch welche seelischen Tiefen sie insgeheim gegangen war?
    Dann war da noch Kurt-Manfred, mein zweiundzwanzigjähriger Cousin, Halbjude, der den Krieg in Hamburg erlebte.
    In der letzten Kriegswoche wurde er nach Berlin gerufen, um in einer Rüstungsfabrik zu arbeiten.
    Am Vorabend seiner Abreise wollte er mit seinen Freunden Abschied feiern und sie gingen auf die Reeperbahn.
    Leicht beschwipst machten sie sich auf den Heimweg und sangen dabei Cole Porters Song »Begin the Beguine«.
    Das hörte ein Nazibeamter, der zufällig des Weges kam, und als er entdeckte, dass Kurt-Manfred Jude war (obschon nur zur Hälfte), wurde er an Ort und Stelle festgenommen.
    Gleich am nächsten Tag wurde er ins nahe gelegene KZ Neuengamme gebracht und ermordet, nur deshalb, weil es in Nazideutschland verboten war, amerikanische Jazz-Songs zu singen.
    Hier, Anna, sieh dir das Foto von Kurt-Manfred an, schau dir seine Augen an, die Augen eines jungen Mannes voller Lebenslust und Fröhlichkeit, und frage dich, ob er es verdient hat, mit nur zweiundzwanzig Jahren auf diese grauenhafte Weise zu sterben!
    Hatte es überhaupt irgendjemand verdient? Meine gebrechlichen Großtanten, meine betagten, kranken Großeltern? Mein Vater, der im Alter von fünfundfünfzig an einem gebrochenen Herzen starb?
    Alle waren sie Opfer des Dritten Reichs.
    Und wie kann ich damit leben?
    Und wie konnte ich wieder in Deutschland leben?
    Ganz einfach: Die Deutschen hatten meine Mutter am Leben gelassen.
    Und das kam so: Nach der Deportation meiner Großeltern (oh, wie ich diesen
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