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Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport

Titel: Ich war ein Glückskind - mein Weg aus Nazideutschland mit dem Kindertransport
Autoren: cbj Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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aufschließen wollte, riss Auntie sie auf. Sie war offensichtlich gerade aus Tunbridge zurückgekehrt.
    Sie trug ihren langen schwarzen Ledermantel und bebte vor Empörung von Kopf bis Fuß.
    »Ich hatte gehofft, du seist schon weg, Marion!«, zischte sie.
    »Aber, Auntie«, stammelte ich, »es war doch nicht meine Idee.« Ich bekam die Worte kaum über die Lippen.
    »Du hast mich verraten, Marion. So einfach ist es.«
    Da wurde ich auch wütend.
    »Das stimmt nicht, Auntie!«, rief ich. »Es ist nur wegen deines Briefes. Ich mag dich doch.«
    Doch sie zuckte nur mit den Schultern.
    »Ich habe für dich getan, was ich konnte, Marion. Ich habe dich wie ein Familienmitglied behandelt. Ich habe dich wie eine Deutsche behandelt, nicht wie eine Jüdin. Und trotzdem hast du mich betrogen!«
    Dann stapfte sie in ihr Arbeitszimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
    Ich rannte zum allerletzten Mal nach oben, um meine Wertsachen zu holen: meinen »Gott mit Dir«-Ring, Ruthies pinkfarbenen Schal, mein goldenes Medaillon, meinen Amethyst.
    Den Amethyst, den Auntie mir geschenkt hatte und der mir nach vielen Jahren in der Fremde das Gefühl gegeben hatte, dass ich wieder zu jemandem gehörte.
    Alles nur eine Illusion.
    Als ich dann das Haus verließ, wandte ich mich noch einmal für eine Sekunde um und warf einen letzten Blick zurück.
    Ich sah Auntie am Fenster ihres Arbeitszimmers stehen, das Gesicht an die Scheibe gedrückt, und ich sah auch den verletzten, wütenden Ausdruck in ihren Augen.
    Instinktiv hob ich die Hand, um ihr zuzuwinken, doch dann ließ ich es bleiben.
    »Du hast mich verraten!«
    Ihre ungerechte Anschuldigung hallte mir noch in den Ohren, als ich mich abwandte und mit tränenüberströmtem Gesicht zu dem Wohnheim ging, meiner Zukunft entgegen.

16
    WAHRE LIEBE
    September 1944
    Liebes Tagebuch,
    ich bin verliebt. Verliebt wie nie zuvor!
    Es ist die glücklichste Zeit meines Lebens, und das Einzige, was mein Glück noch vollkommener machen könnte, wäre es, Mama wiederzusehen und ihr Paul vorzustellen.
    Es ist so wunderbar, ihn zu lieben, und diese Liebe wird ein ganzes Leben lang halten.
    Er ist zweiundzwanzig, stammt aus Wien, und wenn ich in seine wunderschönen braunen Augen schaue, erwidert er meinen Blick auf eine Art, die mich glauben lässt, ich sähe Papas Augen – in seinem Blick liegt so viel Zärtlichkeit und das Versprechen: Ich werde dich immer lieben und mich um dich kümmern.
    Allerdings ist Paul nicht so groß und stark wie Papa, er ist eher klein und schlank und lustig.
    Eher ein Kobold als ein Märchenprinz, doch er ist gut und freundlich, und wenn er mich küsst, habe ich das Gefühl, im siebten Himmel zu sein.
    Unfassbar, dass wir uns noch nicht mal einen Monat kennen. Es kommt mir vor, als würde ich ihn schon mein ganzes Leben lang kennen.
    Gleich am ersten Abend im Wohnheim hatte ich Spüldienst – mit Paul.
    Ich hatte ewig kein Geschirr mehr gespült, nicht seit damals bei Mrs Rix, aber damals war es ja nur das Geschirr von fünf Personen gewesen.
    Hier ging es um das Geschirr des ganzen Wohnheims – zwanzig Kinder und junge Leute (allesamt Flüchtlinge aus Österreich oder Deutschland) –, und Paul hat mir gezeigt, wie man schnell und effizient abspült.
    Während wir also Seite an Seite arbeiteten, hat er mir von sich erzählt; wie er aus Wien geflohen ist, auf der Isle of Man interniert wurde und dort im Lager in Theaterstücken auftrat, Puppen bastelte und die Camp-Zeitung herausgab.
    Er ist in Cambridge, wie er mir erzählte, weil es in London wegen der ständigen Bombenangriffe zu gefährlich sei.
    Es gefalle ihm hier in Cambridge, sagte er. Und er arbeite bei einem Schneider, wo er Stoffe zuschneidet.
    Die meiste Zeit habe aber ich geredet, glaube ich, und Paul hat zugehört. Er hat so intensiv zugehört, wie mir seit Berlin niemand mehr zugehört hat, und ich habe mich auf Anhieb unsagbar wohl gefühlt mit ihm.
    Ein paar Tage darauf ging er mit mir in den 55 Club, wo sich die deutschen und österreichischen Flüchtlinge treffen und Spaß haben. Erstaunlich, dass ich seit so vielen Jahren in Cambridge wohne, aber noch nie davon gehört hatte.
    Im 55 Club sind alle sehr nett, und zum ersten Mal seit ich Berlin verlassen habe, hatte ich endlich mal wieder das Gefühl, irgendwohin zu gehören.
    Die Gäste des 55 Club wurden von ihren Familien getrennt, und die meisten wissen, genau wie ich, nicht, wie es ihnen geht.
    Zum ersten Mal, seit ich hier in England bin, konnte ich
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